Während des vergangenen Jahrzehnts hat der Body Mass Index ( BMI) der kinderärztlichen Population beachtlich zugenommen und führte eine wachsende Anzahl Kinder und Jugendliche in Richtung einer Adipositas permagna. Die Adipositas ist somit zu einem epidemiologischen und einem öffentlichen Gesundheitsproblem geworden.
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Während des vergangenen Jahr zehnts
hat der Body Mass Index ( BMI) der kin-
derär ztlichen Population beachtlich zuge-
nommen und führ te eine wachsende An-
zahl Kinder und Jugendliche in Richtung ei-
ner Adipositas permagna. Die Adipositas
ist somit zu einem epidemiologischen und
einem öf fentlichen Gesundheitsproblem
geworden. Die Situation scheint ausweg-
los und entmutigend für den Pädiater, wel-
cher regelmässig mit Patienten mit über-
mässigem Gewicht konfrontier t ist.
Aber die kindliche Adipositas ist weit mehr
als ein simpler Risikofaktor. Sie weist alle
Charakteristika einer endokrinologischen
Erkrankung auf: zentrale Kontrolle, Hormon-
produktion durch ein Produktionsgewebe,
Zielgewebe und Rückkoppelungssystem.
Das Fettgewebe, ein endokrines Organ
Thalamus und Hypothalamus besitzen eine
gewisse Anzahl regulatorischer Zonen für
die Energiebalance, im Speziellen der nu-
cleus arcuatus
1). Je nach Ar t des zentralen
oder peripheren Stimulus werden das Neu-
ropeptid Y (NPY) oder das Promelanocotin
(POMC) aktivier t. Das erste erhöht die Nah-
rungszufuhr und verminder t den Energie-
verbrauch, das zweite hat einen gegen-
teiligen Ef fekt auf die Nahrungsaufnahme
und den Energieverbrauch. Dem POMC
wirkt zudem das agouti-related protein ent-
gegen, das im gleichen Sinn reagier t wie
das NPY.
Das Studium dieser Systeme hat zur Ent-
deckung eines Zytokines geführ t, das die
Beur teilung der Adipositas stark veränder t
hat: das Leptin. Es wurde zum noch feh-lenden Verbindungsglied zwischen dem
zentralen Ner vensystem (ZNS) und dem
Adipozyten (Fettzelle) nun auch für andere
Funktionen als die Fettanlage zuständig be-
trachtet. Dieses Hormon wird hauptsäch-
lich im Fettgewebe produzier t, nur in ge-
ringer Menge in den Ovarien und im ZNS
2).
Seine zirkulierende Menge nimmt parallel
zur Fettmasse zu.
Es besitzt eine zentrale appetitvermindern-
de und eine periphere Funktion. Im ZNS
steuer t es die Produktion von NPY, wirkt
auf die Gonadenachse und die kor tikotro-
pe Achse (Tabelle 1). Zudem wird vermu-
tet, dass das Leptin eines der Elemente
sei, welches die Empfindlichkeit des ZNS
gegenüber den Östrogenen modifizier t und
die Puber tät auslösen kann. Ein gutes Bei-spiel für diese Wirkungsweise zeigte die
Anwendung eines rekombinier ten Leptines,
dessen Gebrauch abgebrochen werden
musste wegen der Gonadotropinproduktion
bei einem vorpuber tären Mädchen
3). Bei
der er wachsenen Frau hat das Leptin ei-
nen Einfluss auf die Fruchtbarkeit und
unterstützt in gewisser Weise die Hypo-
these von Frisch, welcher eine Beziehung
zwischen der Körper zusammensetzung
und dem Menstruationszyklus postulier t
4).
Neben den Wirkungen im ZNS hat das Lep-
tin eine wichtige periphere Wirkung, wie
das Vorhandensein von Rezeptoren in ver-
schiedenen Organen wie Leber, Muskel,
Gonaden usw. bezeugen
5). Es steuer t die
Ver wendung der Nährstof fe verschieden,
je nach betrof fenem Gewebe. Im Adipozy-
Adipositas, eine endokrinologische Erkrankung
La traduction française de cet ar ticle est parue dans PAEDIATRICA (vol. 14 n°2. 2003, p. 10–13)
Energiebilanz
tiefes Leptin Erhöhtes Leptin
α-MSH NPYα-MSH NPY
der Nahrungsaufnahme
Gewichtszunahmeder Nahrungsaufnahme
Gewichtsverlust
Tabelle 1:Modèle de régulation de la balance énergétique
via la leptine et le SNC 1)
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ten hinder t es den insulinabhängigen Glu-
kosetranspor t, die Lipogenese und die Gly-
kogensynthese. Letzteres Phänomen ist
ebenfalls in der Leber betrof fen, aber ohne
Veränderung der Af finität des Insulinre-
zeptors. Im Weiteren übt es einen Ef fekt
auf den Muskel aus, eine Verminderung
der Lipogenese und des nicht insulinab-
hängigen Glukosetranspor tes. Auf dem
Energieniveau bewirkt das Leptin eine Ver-
änderung des Substratgebrauches im Mus-
kelgewebe. Es förder t die Fettoxydation im
hauptsächlichen Energieproduktionsor t.
Mit diesen komplexen Angrif fspunkten
nimmt es aktiv teil an der Verminderung
der Insulinempfindlichkeit, wie sie beim
adipösen Patienten anzutref fen ist.
Das Fettgewebe steht tatsächlich im
Zentrum eines komplexen hormonellen
Systems, das in einer bedeutenden Weise
die Fettmasse beeinflusst und die
Ver wendung der verschiedenen Nah-
rungsmittel regulier t. Die Kenntnis die-
ser Achse dar f uns nicht die Existenz
anderer Peptide vergessen lassen, welche
vom Adipozyten produzier t werden und
deren Bedeutung oft Quelle von Kontro-
versen ist.
Endokrinologische Folgepathologien
Bis jetzt sind bei adipösen Patienten als
einzige hormonelle Störungen eine ver-
minder te Insulinempfindlichkeitdes pe-
ripheren Gewebes und ein basaler Hyper-
insulinismusklar bewiesen. Wir müssen
bei der Suche nach verantwor tlichen Fak-
toren für diese hormonellen Veränderun-
gen besonders vorsichtig sein. Die Verän-
derungen der zirkulierenden Leptinmengeund der verschiedenen anderen Peptide ge-
ben uns kaum Aufschluss über den Ur-
sprung dieser metabolischen Veränderun-
gen, auch wenn sie mit grosser Wahrschein-
lichkeit an der Insulinresistenz der
peripheren Gewebe Teil haben
6),7). Es könn-
te sein, dass das Fettgewebe eine zentrale
Rolle spielt in der Genese dieser Resistenz
und seiner Folgen für Muskel und Leber
8).
Wie dem auch sei, sind die Veränderungen
der Insulinproduktion und der Auswirkun-
gen dieses Hormons sehr wichtige Ele-
mente, stellen sie doch einen ersten re-
versiblen Schritt dar in Richtung der Kom-
plikationen der Adipositas wie der Diabetes
Typ II und die kardiovaskulären Erkran-
kungen. In dieser Hinsicht ist es wichtig zu
bemerken, dass der basale Hyperinsuli-
nismus des Diabetes Typ II eine prädikti-
ve Bedeutung hat im Hinblick auf kardio-
vaskuläre Komplikationen, unabhängig von
den anderen üblichen biologischen Gege-
benheiten
9).
Typen von Adipositas
Über die Hof fnung hinaus, welche die Ent-
deckung neuer therapeutischer Mittel dar-
stellt, bieten die Beschreibung und das Ver-
ständnis der physiopathologischen Me-
chanismen der Adipositas eine andere
Sichtweise der Probleme adipöser Kinder
und Jugendlicher, mit denen wir täglich
konfrontier t werden.
Es ist möglich, zwei Sor ten von Adipositas
zu definieren: die Adipositas im Zu-
sammenhang mit einem Syndromund die
Adipositas simplex. Beide Ar ten weisen
gewisse interessante Charakteristika auf.•Die Adipositas im Zusammenhang
mit einem Syndrom als Folge einer
genetischen Erkrankung der Leptin-
produktion, eines Mangels an Leptin-
oder Melanokor tinrezeptoren (MC4-
Rezeptoren) ist eine ungewöhnliche
und seltene Adipositasar t. Sie mani-
festier t sich durch eine früh auftre-
tende krankhafte Adipositas, eine
Hyperphagie, Verhaltensstörungen
und ist manchmal assoziier t mit ei-
nem Hypogonadismus oder mit ei-
nem Wachstumshormonmangel.
Es ist wichtig, an diese Diagnose bei
einem Patienten mit solchen Sympto-
men zu denken, speziell bei einer
krankhaften Adipositas und einer Hy-
perphagie als Folge eines gestör ten
Sättigungsgefühls, wie es beim
Prader-Willi-Syndrom beobachtet
wird. Die üblichen Massnahmen zur
Verminderung der Nahrungszufuhr
sind unwirksam. Man muss deshalb
andere therapeutische Strategien
suchen.
•Bei der Adipositas simplex komplizie-
ren die soeben beschriebenen Stof f-
wechselstörungen unsere Inter ven-
tionsmöglichkeiten auf das Gewicht
ungemein. Man muss dieser Tatsa-
che Rechnung tragen und dar f diese
Schwierigkeiten nicht dem bösen
Willen des Patienten zuschreiben.
Endokrinologische Abklärungen
Zum jetzigen Zeitpunkt erlaubt es das Ver-
ständnis der zugrunde liegenden endokri-
nologischen Mechanismen noch nicht,
eine systematische Diagnostik zu betrei-
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ben. Der Leptinspiegel könnte gewisse
Auskünfte geben, seine routinemässige
Bestimmung macht aber kaum einen Sinn,
da das Leptin möglicher weise ein guter
Marker zur Angabe der Energiereser ven ist,
jedoch keinen prognostischen Wer t hat. In
der Tat hat die longitudinale Analyse von
Kohor ten adipöser Kinder den prädiktiven
Wer t des basalen Leptinspiegels bezüglich
zukünftiger Gewichtszunahme nicht be-
stätigen können
10).
Andererseits beruht die Diagnostik der Adi-
positas auf einem epidemiologischen Kri-
terium, dem Body Mass-Index (BMI), der
sich auf keinen einzigen biologischen Wer t
abstützt
11). Es ist deshalb sehr schwierig,
etwas über den Stellenwer t der Bewer tung
erkannter metabolischer Veränderungen
auszusagen, im Speziellen, was das In-
sulin anbelangt. Trotz allem bleibt die pro-
vozier te Hyperglykämie bei allen diabe-
tesverdächtigen Fällen indizier t.
Therapeutischer Ansatz
Das Verständnis der Mechanismen, welche
der Adipositas zugrunde liegen, bringt Hof f-
nung, neue therapeutische Mittel zu fin-
den. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir aber
weit davon entfernt.
Der therapeutische Zugang hebt gut die
Zweideutigkeit her vor, die wir bei der Adi-
positas antref fen. Einesteils muss man
deren For tschreiten vermeiden, andern-
teils haben wir Mühe, das adipöse Kind als
«Kranken» anzuerkennen. Bevor ein Mittel
vorgeschlagen wird, wäre es nützlich, das
gesuchte Ziel zu definieren: Einwirken auf
das Symptom, welches die Adipositas cha-
rakterisier t, oder auf die metabolischenVeränderungen der Krankheit. Solange die-
ses Dilemma nicht gelöst ist, wird jeder
therapeutische Schritt zufällig bleiben. Da
anerkannte biologische Elemente fehlen,
wird seine Evaluation kaum möglich sein.
Es scheint jedenfalls, dass eine Verände-
rung des Lebensstils, des Essverhaltens,
der körperlichen Aktivität in der Betreuung
adipöser Kinder und Jugendlicher eine
wichtige Rolle spielt.
Der Ernährungszugang
Es ist of fensichtlich, dass die Energiezu-
fuhr bei der Adipositas eine grundlegende
Rolle spielt. Es wird nicht mehr auf Diäten
Gewicht gelegt, sondern auf das Essver-
halten. Es handelt sich darum, die Nah-
rungsmenge und die Anzahl Mahlzeiten zu
reduzieren. Von diesem Gesichtspunkt aus
ist die Analyse des Essverhaltens bei Zwil-
lingen mit einem adipösen Zwillingskind
interessant. Es überrascht nicht, dass der
adipöse Zwilling quantitativ mehr isst, fet-
tiger isst und eine Vorliebe für Süssigkei-
ten zeigt
12). Indem man in erster Linie auf
das Essverhalten einwirkt, kann mit einer
Reduktion der Nahrungszufuhr gerechnet
werden. Ist dieser Schritt einmal gemacht,
wird es leichter, diätetische Ratschläge in
der Richtung zu machen, die Diät eventuell
zu verändern.
Die körperliche Aktivität
Gewisse umstrittene Ansätze in der Hand-
habung dieser «gewöhnlichen» Situationen
von Übergewicht haben eine Wirkung auf
die oben beschriebenen hormonellen Ver-
änderungen gezeigt. Dies betrif ft insbe-
sondere die körperliche Aktivität. Die epi-demiologischen Studien haben ihr die Rol-
le eines positiven Gesundheitsverhaltens
zugeschrieben. Aber deren Wirkung über-
trif ft den einfachen Gesundheitsgewinn.
Die körperliche Aktivität ist verbunden mit
einer Verminderung des basalen Insulin-
spiegels, mit einer Verbesserung der
Empfindlichkeit der peripheren Gewebe ge-
genüber dem Insulin. Sie erlaubt auch,
gleichzeitig gegen den lipogenen Ef fekt des
Insulins anzukämpfen
13),14) . Die körperliche
Aktivität nimmt deshalb einen nicht zu ver-
nachlässigenden Platz ein in der Betreuung
der kindlichen Adipositas, unter der Beding-
ung, dass man dem Patienten die körper-
lichen Möglichkeiten gibt, sie zu er tragen.
Zusammenfassung
Man kann die kindliche Adipositas nicht
nur als Prevalenz oder Risiko betrachten.
Es handelt sich um eine Krankheit mit frü-
hen metabolischen Veränderungen, welche
für die Zukunft eine Herausforderung dar-
stellt. Für die Pädiater geht es darum, die
therapeutischen Werkzeuge zu verbessern
und zu entwickeln, adaptier t an die Be-
treuung des Kindes und des Jugendlichen.
Literatur
siehe franz. Text
Michel Cauderay, Vevey
Übersetzung: Cornelia Heller, Meilen
Adr
esse des Autors: Dr M Cauderay
Spéc. FMH Endocrinologie et diabétologie pédiatrique
Unité de santé cardiovasculaire de l’enfant et de
l’adolescent (USCAD),
Ser vice de Pédiatrie, Hôpital Riviera,
1800 Vevey
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr Michel Cauderay , Spéc. FMH Endocrinologie et diabétologie pédiatrique Unité de santé cardiovasculaire de l’enfant et de l’adolescent (USCAD), Service de Pédiatrie, Vevey