Der Achsenstellung der unteren Extremitäten unterliegt in der Frontalebene im Verlaufe des Wachstums bedeutsamen physiologischen Veränderungen. Diese sind insbesondere auf Kniehöhe häufig und erscheinen entweder als genu varum des Neugeborenen oder genu valgum des Kleinkindes. Im Allgemeinen erfolgt eine spontane Korrektur, diese Achsenabweichungen beunruhigen jedoch Eltern ähnlich wie Plattfüsse und sind eine häufige Ursache von Arztbesuchen. Die meisten dieser Achsenabweichungen benötigen keine Behandlung, höchstens eine klinische Überwachung. Die Rolle des Kinderarztes besteht deshalb darin, die Eltern zu beruhigen und über den natürlichen Verlauf aufzuklären, sowie unnötige Abklärungen und therapeutische Massnahmen zu verhindern. Er wird aber auch die seltenen Fälle erkennen müssen, die aus dem physiologischen Rahmen fallen und eine spezialärztliche Betreuung erfordern. (Tab. 1 und 2). Seltene Pathologien oder Achsenabweichungen, von denen man mit grosser Wahrscheinlichkeit keine spontane Besserung erwarten kann, verschlimmern sich mit zunehmendem Wachstum und führen in der Adoleszenz zu funktionellen Störungen und im Erwachsenenalter zur Arthrose.
15
Einführung
Der Achsenstellung der unteren Extremitäten
unter lieg t in der Fr ont aleb ene im Ver lau fe des
Wachstums bedeutsamen physiologischen
Veränderungen. Diese sind insbesondere auf
Kniehöhe häufig und erscheinen entweder als
genu varum des Neugeborenen oder genu
valgum des Kleinkindes. Im Allgemeinen er –
folgt eine spontane Korrektur, diese Achsen –
abweichungen beunruhigen jedoch Eltern
ähnlich wie Plattfüsse und sind eine häufige
Ursache von Arztbesuchen. Die meisten die –
ser Achsenabweichungen benötigen keine
Behandlung, höchstens eine klinische Über –
wachung. Die Rolle des Kinderarztes besteht
deshalb darin, die Eltern zu beruhigen und
über den natürlichen Verlauf aufzuklären,
sowie unnötige Abklärungen und therapeuti –
sche Mas snahmen zu ver hinder n. Er w ir d ab er
auch die seltenen Fälle erkennen müssen, die
aus dem physiologischen Rahmen fallen und
eine spezialärztliche Betreuung erfordern.
( Tab. 1 und 2) . Seltene Pathologien oder Ach –
senabweichungen, von denen man mit gros
–
ser
Wahrscheinlichkeit keine spontane Besse –
rung erwarten kann, verschlimmern sich mit
zunehmendem Wachstum und führen in der Adoleszenz zu funktionellen Störungen und im
Erwachsenenalter zur Arthrose.
Konsequenzen der femorotibialen
Achsenabweichung im Kindesalter
Die femorotibiale Achsenabweichung und
deren biomechanische Auswirkungen haben
beim Kind und Jugendlichen funktionelle Stö
–
rungen zur Folge. Das genu valgum führt zu
einer mechanischen Überlastung des latera –
len Gelenkanteils. Dies hat wiederum eine
Überdehnung von lateraler Gelenkkapsel und
Aussenseitenband zur Folge, so dass die
Kniescheibe nicht mehr in ihrem physiologi –
schen Gleitlager liegt, bis hin zur femoropa –
tellaren Instabilität. Im Gegensatz dazu über –
lastet das genu varum den me dialen A nteil des
Kniegelenkes und verursacht, bei ausgepräg –
ter Achsenabweichung, eine Schlaffheit des
lateralen Kapsel-Bandapparates und, davon
ausgehend, eine Instabilität des Kniegelen-
kes. Im Kindesalter haben unphysiologische Ach
–
senabweichungen Tendenz, sich mit dem
Wachstum zu verschlimmern, entsprechend
dem Gesetz von Hueter-Volkmann, das sagt,
dass das Knochenwachstum durch Dauer –
druck gehemmt und durch Zugkräfte geför –
dert wird. Dieser Aspekt soll deshalb im Kopf
behalten werden, denn gewisse Auffälligkei –
ten werden durch das Wachstum wohl korri –
giert, andere aber im Gegenteil verschlim –
mert.
Klinische Diagnose der Achsen –
abw
eichungen in der Frontalebene
Die Messung von frontalen Achsenabweichun –
gen sollte idealerweise in stehender und lie –
gender Stellung vorgenommen werden. Eine
Zunahme der Achsenabweichung im Stehen
weist auf eine Instabilität des Kapsel-Bandap –
parates hin. Um die Messwerte von einer
Kontrolle zur anderen vergleichen zu können,
ist es wichtig, die unteren Extremitäten lie –
gend und stehend in reproduzierbarer Stel –
lung zu halten, Knie in maximaler Streckstel-
lung mit strenger Ventralpositionierung der
Patella. Das genu varum wird durch den Inter –
kondylenabstand (IKA) bei sich berührenden
Fussknöcheln und nach vorne gerichteten
Kniescheiben beurteilt, das genu valgum
durch den intermalleolären Abstand (IMA) bei
sich berührenden Knien mit nach vorne ge –
richteten Kniescheiben.
Physiologische genua valga sind klinisch im
Allgemeinen nicht sichtbar, ein sichtbarer IMA
bedeutet deshalb, dass von einem rein stati-
schen Gesichtspunkt aus gesehen, ein Valgus
vorliegt. Man muss aber im Auge behalten,
dass ein im Alter von 2–4 Jahren sichtbarer
Valgus sich verändern kann; in den meisten
Fällen kommt es z w ischen 4 und 10 Jahr en zu
einer spontanen Korrektur, ein klinisch sicht –
barer Valgus darf deshalb nicht unbedingt als
abnorm angesehen werden. Ebenso kann bei
Übergewicht die übermässige Weichteilmasse
der unteren Extremitäten zum klinischen
Eindruck von genua valga führen, bei radiolo –
gisch absolut achsengerechten Knien. Etwa
30
% de
r 3–4-jährigen Kinder weisen einen
IMA > 5 cm auf, der jedoch bei nur 6
% im
Alter
von 8 Jahren weiterbesteht. Ein IMA von mehr
als 8 cm beim über 8 -jährigen Kind muss als
abnorm betrachtet werden, während jeglicher
IKA, unabhängig von seinem Ausmass, als
pathologisch angesehen werden muss.
Die klinische Untersuchung soll auch nach
einer dynamischen Instabilität suchen (insbe –
sondere wenn eine Bandlaxität besteht), um
Wachstumsmodulation als therapeutische
Lösung bei Achsenabweichungen im
Kniebereich im Kindesalter
Dimitri Ceroni, Raimonda Valaikaite, GenfÜbersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Ätiologie des genu varum im Kindesalter
•
Phys
iologisch (0–2 Jahre)
•
Achs
enfehlstellung der Tibia
•
Familiär
konstitutionell
•
Mor
bus Blount
•
Kon
stitutionelle Knochenkrankheit
(Osteochondrodystrophien)
•
Lok
ale Ursache (einseitiges genu varum )
•
Medi
ale Epiphysiodese
• Tra
umatisch
• Infe
ktbedingt
•
Pat
hologischer Kallus
•
Mis
sbildung
•
Tu m o
r
•
Läh
mungsfolge
•
Narb
enkontraktur
Ta b e l l e 1
Ätiologie des genu valgum im
Kindesalter
•
Phys
iologisch (Kleinkind)
•
Familiär
konstitutionell
•
Übe
rgewichtbedingt
•
Rachi
tis
•
Kon
stitutionelle Knochenkrankheit
(Osteochondrodystrophien)
•
Elas
thopathien
•
Lok
ale Ursache (einseitiges genu valgum )
•
Lat
erale Epiphysiodese
•
Tra
umatisch
•
Infe
ktbedingt
•
Pro
ximale Metaphysenfraktur
des Schienbeins
•
Pat
hologischer Kallus
•
Mis
sbildung
•
Tu m o
r
•
Läh
mungsfolge
•
Narb
enkontraktur
•
Kon
genitale Patellaluxation
Ta b e l l e 2
1Prof. ffRTof ff.abi
1Prof. RTab
16
den Anteil des Kapsel-Bandapparates an der
Achsenabweichung zu erfassen. Schliesslich
soll nach Torsionsfehlstellungen der verschie-
denen Segmente gesucht werden, da eine
erhöhte Antetorsion des Schenkelhalses kli –
nisch als genu valgum imponieren, während
eine innere Tibiatorsion ein genu varum vor-
täuschen kann.
Radiologische Abklärung
von Achsenabweichungen
der unteren Extremität
Zur Diagnose und Messung von Achsenab –
wei
chungen werden Ganzbeinachsenstand –
aufnahmen durchgeführt. Dies erfolgt heutzu –
tage mittels niedrigdosiertem EOS-Ganz
–
kör
perscanner, eine Technik die es erlaubt,
simultan ap- und seitliche Aufnahmen der
unteren Extremitäten durchzuführen, mit ei -ner 90
% -i
gen Strahlenreduktion im Vergleich
zu konventionellen Apparaten. Die Aufnahmen
erfolgen stehend bei strenger Ventralpositio –
nierung der Patella und nach Korrektur einer
eventuellen Beinlängendifferenz durch eine
entsprechende Unterlage. Die vom Zentrum
des Femurkopfes zum Zentrum des Sprung –
beins gezogene Gerade soll die Mitte des
Kniegelenkes durchlaufen; diese Linie ent –
spricht der mechanischen Achse ( Abb. 1). Die
Winkelabweichung ist gegeben durch den
Winkel zwischen mechanischer Femur- und
mechanischer Tibiaachse. Die genauere Ana –
lyse kann Aufschluss über die Lokalisation der
Fehlstellung und das Rotationszentrum des
errechneten Winkels geben. Sind diese Para –
meter er s t b es timmt , kann der b evor zug te O r t
der Wachstumsmodulation festgelegt werden.
Was bedeutet
Wachstumsmodulation
Die Wachstumsmodulation besteht in einer
temporären Hemiepiphysiodese, mittels
Klammern, transphysären Schrauben oder
eight-Plates nach Stevens. Diese neue Tech-
nik benutzt 2-Loch- oder 4-Loch-Platten, die
rittlings über die Epiphysenfuge am Knochen
angebracht werden. Das Wachstum wird da –
durch unter der Platte gehemmt, während es
auf der Gegenseite der Epiphyse unbeein –
flusst bleibt. Wird das Material nicht länger als 24 Monate b elas sen, schr eitet das Wachs tum
nach Entfernen der Platte in der ganzen Epi
–
physe wieder normal fort. Die Winkelkorrektur
durch eine Hemiepiphysiodese hängt von zwei
Faktoren ab: Breite der Wachstumsfuge und
Wachstumsgeschwindigkeit. Die Arbeiten von
DiMeglio haben gezeigt, dass das Wachstum
im Kniebereich etwa 2 cm/Jahr beträgt, und
dies bis zum Höhepunkt des pubertären
Wachstumsschubes, d.
h.
bis zum (Knochen-)
Alter von 13 Jahre für Mädchen und 15 Jahre
für Knaben. Das Wachstum in den unteren
Extremitäten verlangsamt sich dann progres –
siv, um mit Knochenalter von 14.5 Jahren
beim Mädchen und 16.5 Jahren beim Knaben
endgültig aufzuhören. Die Tatsache, dass das
Wachstum in den unteren Extremitäten vor
dem Maximum des pubertären Wachstums –
schubes aufhört, muss in Erinnerung behalten
werden, um Kinder nicht zu spät für eine
eventuelle Wachstumsmodula
tion
zuzuwei
–
sen. Die Winkelkorrektur in der Frontalebene
beträgt 0 . 7 °/ M t . bei distaler Femur-, 0 . 5 °/
Mt. bei proximaler Tibia- und 1 . 2 °/ M t . bei
Hemiepiphysiodese an beiden Stellen. Die
Längenkorrektur während dem ansteigenden
Ast des Pubertätswachstumsschubes beträgt
bei vollständiger distaler Femurepiphysiodese
ca. 1.2 cm/Jahr , bei voll
stän
diger proximaler
Tibiaepiphysiodese be
trä
gt die Wachstums-
verzögerung 0.8 cm/Jahr.
Abbildung 2: Operationstechnik (Erklärung: s. Text). (Image courtesy of «Orthofix international»)
Abbildung 1: Die Vom Zentrum des Femurkop –
fes zum Zentrum des Sprungbeines gezogene
Gerade durchkreuzt normalerweise die Mitte
des Kniegelenkes; diese Gerade entspricht
der mechanischen Achse. Sie ist bei Varus-
nach medial und bei Valgusfehlstellung nach
lateral verschoben. Es werden zwischen me –
chanischer Achse und Tangente zu den Ge –
lenkflächen von Femur- und Tibiaepiphysen
zwei Winkel gemessen. Diese Masse geben
die Lokalisation der Winkelfehlstellung an.
mDLFA = mechanical Distal Lateral Femoral
Angle; Normalwert 87°+/- 3°
m PM TA = mechanical Proximal Medial Tibial
Angle; Normalwert 87°+/- 3°
m PM TA
mDLFA
1Prof. ffRTof ff.abi
1Prof. RTab
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Operationstechnik
Die Hemiepiphysiodese mittels eight-Plates
ist eine einfache chirurgische Technik und
vollständig reversibel, wenn die Platten nicht
mehr als 24 Monate in situ belassen werden
( Abb. 2 ). Dur ch eine Hautinzision au f Höhe der
Wachstumsfuge wird die Platte so am Kno –
chen fi x ier t , das s sie genau zentr ier t üb er der
Wachstumsfuge zu liegen kommt. Seitlich
b etr achtet , soll dar au f geachtet wer den, das s
die Plat te genau in der Knochen – und Diaphy –
senachse liegt; dies ist insbesondere für das
distale Femur wichtig. Für Kinder unter 10 Jahren verwendet man Platten mit 2 Löchern
(eight-Plate) , für ältere die Variante mit 4 Lö
–
chern (Quadriplate). Um ein Ausreissen zu
vermeiden, sollen die Schrauben möglichst
lang sein und möglichst parallel zur Epiphy-
senfuge liegen. Alle 3–4 Monate wird eine
radiologische Kontrolle durchgeführt, um die
Achsenkorrektur zu verfolgen. Die Platten
werden entfernt, sobald die erwünschte Kor –
rektur erreicht ist, wobei die Eltern darauf
hingewiesen werden müssen, dass bei asym –
metrischer Winkelabweichung die Metallent –
fernung u.
U.
getrennt vorgenommen werden
muss. Die Massnahme kann mehrmals wie –
derholt werden, falls es erneut zur Achsenab –
weichung kommt, was insbesondere bei Os –
teochondrodystrophie der Fall sein kann.
Schlussfolgerung
Frontale Achsenabweichungen der unteren
Extremität wurden lange Zeit durch Osteoto –
mie und Anlegen von Osteosynthesematerial
oder eines Fixateur extern behandelt. Im
Kindesalter kann auf Osteotomien dank den
weit weniger invasiven Techniken der Wachs –
tumsmodulation meist verzichtet werden.
Conditio sine qua non um mit dieser Technik
eine vollständige oder zumindest partielle
Korrektur zu erreichen, ist eine ausreichende
verbleibende Wachstumskapazität. Es ist des –
halb wichtig, im Auge zu behalten, dass das
Wachstum der unteren Extremitäten vor Ende
des pubertären Wachstumsschubes aufhört,
und Kinder mit einer pathologischen Achsen –
abweichung frühzeitig einem Kinderorthopä –
den zugewiesen werden sollen, um den idea –
len Zeitpunkt zur Wachstumsmodulation nicht
zu verpassen.
Beispiel (Abb. 3)
Bei diesem 12½-jährigen Knaben (Knochen –
alter 13 Jahre) besteht eine familiäre Osteo
–
cho
ndrodystrophie (multiple epiphysäre
Dysplasie). Zum Zeitpunkt der Wachstumsmo –
dulation betrug die Valgusabweichung im
Kniebereich rechts 17° und links 11°. Es
wurde eine mediale Hemiepiphysiodese am
distalen Oberschenkel und proximalen
Schienbein beidseits durchgeführt. Zehn Mo –
nate nach dem Eingriff war die Korrektur
rechts vollständig, während links eine Über-
korrektur vorlag. Nach Metallentfernung er –
forderte ein Rezidiv mit erneuter Valgusstel –
lung beider Knie eine zweite Modulation, mit
ausgezeichnetem Resultat bei Wachstumsab –
schluss (Winkel < 2°).
Die Autoren haben keine finanzielle Unter
stützung und keine anderen Interessen
konflikte im Zusammenhang mit diesem
Beitrag.
Korrespondenzadresse
Dr. Dimitri Ceroni & Dr. Raimonda Valaikaite
Service d’Orthopédie Pédiatrique
Département de l’Enfant et de l’Adolescent
Hôpitaux Universitaires de Genève
6, rue Willy Donzé
1211 Genève 14
dimitri.ceroni @ hcuge.ch
Achsenfehlstellungen die dem Kinderorthopäden zugewiesen werden sollen
Jede Varusfehlstellung nach dem Alter von 2 Jahren
Jede Valgusfehlstellung mit IMA > 6–8 cm beim > 8-Jährigen
Jede asymmetrische Varus-/Valgusfehlstellung
Jede progressive Varus-/Valgusfehlstellung
Jede Achsenfehlstellung
•
bei
konstitutionellen Knochenkrankheiten
•
bei m
etabolischen Krankheiten
•
nach
Knocheninfektion
•
nac
h Fraktur
•
inf
olge einer Hautaffektion (Narbenkontraktur)
•
inf
olge eines Tumors
•
im Zu
sammenhang mit einer Missbildung
Ta b e l l e 3
Abbildung 3b:
Nach der Operation
Abbildung 3a:
Vor der Operation
Weitr- rruntr rr-dFo
Weitr- undF
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
D. Ceroni Dr. Raimonda Valaikaite , Service d’Orthopédie Pédiatrique Département de l’Enfant et de l’Adolescent Hôpitaux Universitaires de Genève Andreas Nydegger