Die Impfung gegen Varicella Zoster Virus (VZV) ist eine der Basisimpfungen in der Schweiz. Sie ist für alle 11- bis 15- ährigen Jugendlichen mit einer negativen persönlichen Anamnese für Varizellen empfohlen. Diese altersabhängige Empfehlung beruht darauf, dass die Erkrankungen im frühen Kindesalter meist komplikationsarm verlaufen und 98% aller Adoleszenten Varizellen durchgemacht haben und daher immun sind.
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Vol. 19 No. 3 2008 Fortbildung / Formation continue
Einleitung
Die Impfung gegen Varicella Zoster Virus
(VZV) ist eine der Basisimpfungen in der
Schweiz. Sie ist für alle 11- bis 15-jährigen
Jugendlichen mit einer negativen persönli-
chen Anamnese für Varizellen empfohlen.
Diese altersabhängige Empfehlung beruht
darauf, dass die Erkrankungen im frühen
Kindesalter meist komplikationsarm verlau –
fen und 98% aller Adoleszenten Varizellen
durchgemacht haben und daher immun
sind. Die bei 2% der Erwachsenen stattfin –
dende Infektion ist bis zu 16-mal häufiger mit
Komplikationen verbunden und führt bis zu
20–40-mal häufiger zum Tode als bei Kin -dern. Eine Nachholimpfung ist deshalb auch
bei jungen Erwachsenen (Alter < 40 Jahren)
empfohlen, welche die Varizellen anam
-
nestisch nicht durchgemacht haben, ins-
besondere bei Frauen mit Kinderwunsch. Im
Weiteren ist die Impfung für Personen emp -
fohlen, die nicht immun sind (IgG negativ)
und ein erhöhtes Risiko von Komplikationen
durch Varizellen haben.
Im Gegensatz zu vielen anderen febrilen
Erkrankungen mit Exanthem ist die Ana -
mnese durchgemachter Varizellen mit einem
positiv prädiktiven Wert von über 98% hin -
reichend zuverlässig zur Identifikation der
nicht immunen Adoleszenten. Der negativ
prädiktive Wert von 26% zeigt, dass unter den Adoleszenten mit fehlender Anamnese
für Varizellen etwa ein Viertel tatsächlich
noch empfänglich ist
1). Für drei Viertel der
Adoleszenten mit fehlender Anamnese stellt
die Impfung also eine Booster-Dosis dar. Für
die anderen etwa 235 000 in der Schweiz
Lebenden stellt die Impfung einen aktiven
Schutz vor der Komplikation im Erwachse -
nenalter dar.
Um die Inzidenz und den Schweregrad der
Komplikationen bei Kindern in der Schweiz
zu erfassen, wurden während 3 Jahren (April
2000 bis Mai 2003) alle VZV-Infektionen, die
bei Kindern und Jugendlichen bis zum Alter
von 16 Jahren in der Schweiz zu einer Hos -
pitalisation geführt haben, im Rahmen der
Swiss Paediatric Surveillance Unit (SPSU)
prospektiv erfasst (Abb. 1)
2). Im Folgenden
fassen wir die Resultate dieser Studie zu -
sammen. Ein Überblick über die Eckdaten
von VZV-Infektionen in der Schweiz ist in
Tabelle 1 dargestellt.
Varizellen-Impfung in der Schweiz
Jan Bonhoeffer, Ulrich Heininger, Basel
Abbildung 1: Studienprofil
243 SPSU-Meldungen
235 Fälle
335 (100%) Fälle
8 Patienten erfüllen die
Falldefinition nicht
100 Patienten via
ICD-10 identifiziert
291 (87%) primär gesunde Patienten 44 (13%) Immunkompromittierte
267 (92%) Varicella 24 (8%) Herpes Zoster 26 (59%) Varicella 18 (41%) Herpes Zoster
197 (74%)
Gruppe1*
15 (6%)
Gruppe 2†
55 (20%)
Gruppe 3 † 18 (75%)
Gruppe1* 1 (5%)
Gruppe2† 5 (21%)
Gruppe 3 † 24 (92%)
Gruppe1* 2 (8%)
Gruppe 3 † 14 (78%)
Gruppe1* 4 (22%)
Gruppe 3 †
* Gruppe 1 (N total = 253; 75%): Patienten wegen VZV-Infektion hospitalisiert
† Gruppe 2 (N total = 16; 5%): Patienten wegen VZV-Infektion und Begleiterkrankung hospitalisiert
† Gruppe 3 (N total= 66; 20%): Patienten wegen anderer, von der VZV unabhängigen, Erkrankung hospitalisiert
Modifiziert nach Bonhoeffer et al
2)
Fortbildung / Formation continue
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Schweizer Daten zur Komplika-
tionsrate von Varicella-Zoster
Virus-Infektionen bei hospitali -
sierten Kindern und Jugendlichen
Während der Studiendauer lebten in der
Schweiz durchschnittlich 1 337 175 Kinder
und Jugendliche pro Jahr. Bei einer Seroprä-
valenz von 98% im Alter von 16 Jahren kam
es jedes Jahr zu geschätzt 77 084 VZV-Infek -
tionen in dieser Kohorte. Die Vollständigkeit
der Meldungen an die SPSU (n = 235) wurde
anhand einer Capture-Recapture-Analyse
mit einer unabhängigen Datenquelle (Iden -
tifikation von Patienten durch ICD10-Codes;
n = 100) überprüft, und die geschätzte An -
zahl der tatsächlichen Hospitalisationen
(n = 420) ermittelt. Die Hospitalisationsrate
betrug somit 18/10 000 Infektionen, davon
fielen 13/10 000 auf Varizellen-Primärinfek -
tionen und der Rest auf Herpes zoster. Das
durchschnittliche Alter der hospitalisierten
Patienten betrug 4 Jahre (Median 3.5 Jahre;
Spannweite 0–16 Jahre), Säuglinge (< 12 Mo-
nate) waren das am stärksten vertretene
Altersjahr (n = 61; 18%). Der Anteil von Säu g-
lingen < 3 Monate betrug 4%. Dies ist ein
Ausdruck fehlenden Nestschutzes durch
maternale VZV-Antikörper und zeigt das Po- tenzial, nicht nur Erwachsene (insbesondere
Frauen im gebärfähigen Alter), sondern auch
Säuglinge durch eine konsequente Impfung
der Adoleszenten vor den Komplikationen
einer VZV-Infektion zu schützen. Weitere
50% der Fälle fielen auf die 1- bis 4-jährigen
Kleinkinder
(Tab.2). Dies unterstreicht die
Notwendigkeit einer frühzeitigen Impfung,
insofern eine Prävention von Komplikatio -
nen im Kindesalter angestrebt wird.
Unter 335 Patienten, die mittels SPSU und/
oder ICD10 -Codes identifiziert wurden, wa -
ren 44 (13%) immunkompromittiert, keiner
von diesen war gegen Varizellen geimpft. Elf
Patienten (3%) bedurften einer intensivme -
dizinischen Betreuung. Unter diesen waren
8 wegen einer VZV-Infektion hospitali siert
(Gruppe 1 in Abb. 1) und 3 primär aus an -
deren Gründen (Gruppe 3 in Abb. 1). Alle
waren immunkompetent. Drei, davon zwei
immunkompetente, Kinder starben im Rah -
men der VZV-Infektion. Die VZV-assoziierte
Mortalität unter hospitalisierten Patienten
betrug demnach 0.5%. Bezogen auf alle
VZV-Infektionen in der Schweiz ergab dies
eine Mortalität von 1:100 000.
Insgesamt wurden bei den hospitalisierten
Patienten 319 Komplikationen von VZV-Infek -
tionen erfasst. Die Art und Häufigkeit der 303 Komplikationen bei 253 Patienten, die wegen
einer VZV-Infektion hospitalisiert wurden ist in
Tabelle 3 dargestellt. In Gruppe 2 (16 Patien
-
ten) traten 10 Komplikationen und in Gruppe
3 (66 Patienten) 6 Komplikationen auf. Die
Daten der Schweizer Studie zeigen das Risiko
immunkompetenter Kinder an schweren Kom -
plikationen von Varizellen zu erkranken.
Ein Follow-up 6 Monate nach Hospitalisation
(n = 315) ergab, dass 7 (2%) Patienten einer
Rehospitalisation wegen der früheren VZV-
Infektion oder deren Komplikationen be -
durften und 12 Patienten (4%), von denen
11 immunkompetent waren, langfristige Fol -
gen hatten: Entstellende Narben (n = 9), Ent -
wicklungsretardierung (n = 1), Gelenkknorpel -
destruktionen (n = 1) und eine eingeschränkte
Vitalkapazität infolge Pneumonie (n = 1).
Impfprävention
Neben den seit längerem verfügbaren mo -
novalenten Varizellen-Impfstoffen ist neuer-
dings in der Schweiz (und anderen Ländern)
ein tetravalenter MMRV-Kombinationsimpf -
stoff erhältlich. Es handelt sich dabei jeweils
um attenuierte Lebendimpfstoffe.
Die monovalenten Varizellen-Impfstoffe sind
ohne obere Altersbegrenzung ab dem Alter
von 9 Monaten (Varilrix
®) bzw. 12 Monaten
(Varivax ®) zugelassen. Bis zum Alter von 11
Jahren (Varilrix ®) bzw. 12 Jahren (Varivax ®)
wird gemäss F achinformationen eine Ein -
zeldosis empfohlen, danach sind es 2 Dosen
im Abstand von 6 bzw. 4–8 Wochen. Davon
abweichend empfehlen das BAG und die
Eidgenössische Kommission für Impffragen
(EKIF) seit Januar 2008 grundsätzlich ein
2-Dosen-Impfschema. Dies ist dadurch be -
gründet, dass Langzeitbeobachtungen einen
inkompletten Schutz nach 1 Dosis Varizel -
len-Impfung gezeigt haben (ca. 85% gegen
Infektionen jeglichen Schweregrads, > 95%
gegen schwere Varizellen) und durch eine 2.
Impfdosis ein signifikanter Anti körperanstieg
im Serum induziert wird, der dem Effekt einer
Boosterimpfung gleichkommt
3), 4). Dadurch ist
eine höhere Schutzrate zu erwarten.
Neben der allgemeinen Impfempfehlung für
Jugendliche im Alter von 11–15 Jahren ohne
sichere Varizellenanamnese empfehlen BAG
und EKIF die Varizellenimpfung für Perso –
nen, die nicht immun sind (IgG negativ) und
ein erhöhtes Risiko von Komplikationen
durch Varizellen haben:
● Personen mit Leukämie oder malignem
Tumor (Impfung während klinischer Re –
mission).
VZV-Infektionen ≈ 77 000/Jahr
Anzahl VZV Hospitalisationen ≈ 140/Jahr
Anteil primär gesunder Patienten ≈ 87%
Inzidenz VZV assoziierter Hospitalisationen ≈ 18 pro 10
4 Fälle
Inzidenz Hospitalisationen durch Varizellen ≈ 13 pro 10
4 Fälle
Intensivmedizinische Versorgung ≈ 3% der Hospitalisierten
Langzeitfolgen ≈ 4% der Hospitalisierten
Mortalität ≈ 0.5% der Hospitalisierten
Tabelle 2: Altersspezifische Hospitalisationsrate von Varizellen
Alter Seroprävalenz* N-Fälle N-Fälle N-Fälle hospital- Altersspezifische
Zunahme (%) gesamt hospitalisiert isert (Capture- Hospitalisations-
Recapture) rate †
<1 11 25,957 38 55 21
1–4 27 63,712 117 148 23
5–9 49 115,626 58 80 7
1 0 –1 6 11 25,957 8 13 5
Total 98 231,249 221 296 13
* basierend auf Schweizer VZV-IgG-Seroprävalenzdaten
5)
† pro 10 4 Fälle, basierend auf Capture-Recapture Analyse
Modifiziert nach Bonhoeffer et al 2)
Tabelle 1: Steckbrief von Varicella Zoster Virus-Infektionen bei Kindern und Jugend -
lichen in der Schweiz
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● Vor einer immunsuppressiven Behand -
lung oder Organtransplantation.
● Kinder mit einer HIV-Infektion (vor Im -
munsuppression).
● Kinder mit schwerer Neurodermitis.
● Personen mit engem Kontakt zu oben ge-
nannten Patienten (Geschwister, Eltern).
● Medizinal- und Pflegepersonal
sowie für junge Erwachsene (< 40 Jahre),
welche Varizellen anamnestisch nicht durch -
gemacht haben, insbesondere Frauen mit
Kinderwunsch.
Für Kinder im Alter von 12 Monaten bis 12
Jah ren mit einer Indikation für die Varizellen -
Impfung kann diese neuerdings gemeinsam
mit der MMR-Impfung kombiniert als MMRV-
Impfung (Priorix-Tetra
®) im 2-Dosenschema
im Abstand von mindestens 4 Wochen (emp -fohlener Abstand: 6 Wochen) erfolgen. Damit
kann den betroffenen Kindern der Impfschutz
mit weniger Injektionen vermittelt werden,
jedoch ist mit einer etwas höheren Fieberrate
im Vergleich zu getrennter Impfung zu rech
-
nen. Auch ist der MMRV-Kombinationsimpf -
stoff bislang nicht kassenzulässig.
Referenzen
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les cents. Swiss Med Wkly 2005; 135: 252–255.
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zoster virus: study in Swiss children and analysis of
European data. Vaccine 2001; 19: 3097–3103.
Korrespondenzadresse:
Dr. Jan Bonhoeffer
Infektiologie und Vakzinologie
Universitäts-Kinderspital
beider Basel (UKBB)
Postfach
CH-4005 Basel/Schweiz
Tabelle 3: Art der Komplikation nach Häufigkeit in 253 Patienten* die wegen einer VZV-Infektion hospitalisiert wurden
Modifiziert nach Bonhoeffer et al 2)
* bei einigen Patienten trat mehr als eine Komplikation auf
Total Primär gesunde Immunkompromittierte
Komplikation N % N % N %
Bakterielle Superinfektionen 109 36 104 37 5 26
Haut 65 21 62 22 3 16
Weichteile 8 3 8 3 0 0
Invasive Infektionen 36 12 34 12 2 10
Bakterielle Pneumonie 12 11 1
Sepsis 9 8 1
Akute Osteomyelitis 6 6 0
Septische Arthritis 6 6 0
Meningitis 2 2 0
Nephritis 1 1 0
Neurologische Komplikationen 75 25 72 25 3 16
Meningo-encephalitis 21 7 18 6 3 16
Zerebellitis 33 11 33 12 0 0
Fieberkrampf 21 7 21 7 0 0
Dehydratation 35 12 35 112 0 0
Starke Schmerzen 21 7 14 5 7 37
Gerinnungsstörung 19 6 16 6 3 16
Kerato-Konjunktivitis 11 4 11 4 0 0
Pneumonitis 7 2 6 2 1 5
Elterliche Überforderung 4 2 4 1 0 0
Kongenitales VZV-Infektion 3 1 3 1 0 0
Hepatitis 2 1 2 1 0 0
Nephropathie 2 1 2 1 0 0
Andere Komplikationen 15 5 15 5 0 0
Total 303 100 284 100 19 100
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Jan Bonhoeffer , Infektiologie und Vakzinologie, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)