In Europa definiert man als «seltene Krankheit» ein Leiden, das weniger als 1/2000 Personen trifft, eine bleibende Behinderung verursacht oder lebensbedrohend ist, und hohe Anforderungen an die Zusammenarbeit unter den Betreuenden stellt. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurden über 7000 seltene Krankheiten identifiziert. Obwohl jede einzelne nur eine beschränkte Anzahl Menschen betrifft, ergibt dies für alle zusammen 6–8 % der europäischen Bevölkerung oder ca. 500000 in der Schweiz lebenden Personen. Diese Krankheiten sind in ihrer grossen Mehrheit genetischen Ursprungs (ca. 80 %). Die ersten Symptome treten meist im Kindesalter auf und zwei Drittel der diagnostizierten Fälle sind Kinder oder Jugendliche. Die meisten seltenen Krankheiten verlaufen chronisch und können zu erheblicher Behinderung führen. Die Diagnostik dieser Krankheiten ist schwierig, einerseits weil sie selten sind und zahlreiche Ärzte keine Erfahrung damit haben, andererseits weil entsprechende diagnostische Tests fehlen. Die niedrige Prävalenz jeder einzelnen dieser Krankheiten und die damit zusammenhängende geographische Streuung der Patienten, stellen ein wesentliches Hindernis zur Entwicklung von Behandlungs und Forschungsprogrammen in diesem Bereich dar.
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Seltene Krankheiten: Ein Problem
In Europa definiert man als «seltene Krank
\beit» ein Leiden, das weniger als 1/2000
Personen trifft, eine bleibende Be\binderung
verursac\bt oder lebensbedro\bend ist, und
\bo\be Anforderungen an die Zusammenarbeit
unter den Betreuenden stellt. Bis zum jetzigen
Zeitpunkt wurden über 7000 seltene Krank
\beiten identifiziert. Obwo\bl jede einzelne nur
eine besc\bränkte Anza\bl Mensc\ben betrifft,
ergibt dies für alle zusammen 6–8 % der euro
päisc\ben Bevölkerung oder ca. 500000 in der
Sc\bweiz lebenden Personen. Diese Krank
\beiten sind in i\brer grossen Me\br\beit geneti
sc\ben Ursprungs (ca. 80 %). Die ersten Sym
ptome treten meist im Kindesalter auf und
zwei Drittel der diagnostizierten Fälle sind
Kinder oder Jugendlic\be. Die meisten seltenen
Krank\beiten verlaufen c\bronisc\b und können
zu er\beblic\ber Be\binderung fü\bren.
Die Diagnostik dieser Krank\beiten ist sc\bwie
rig, einerseits weil sie selten sind und za\bl
reic\be Ärzte keine Erfa\brung damit \baben,
andererseits weil entsprec\bende diagnosti
sc\be Tests fe\blen. Die niedrige Prävalenz je
der einzelnen dieser Krank\beiten und die
damit zusammen\bängende geograp\bisc\be Streuung der Patienten, stellen ein wesentli
c\bes Hindernis zur Entwicklung von Be\band
lungs und Forsc\bungsprogrammen in diesem
Bereic\b dar. Und sc\bliesslic\b ist die Entwick
lung spezifisc\ber T\berapien komplex und
teuer, was die p\barmazeutisc\be Industrie in
diesem als besc\bränkt betrac\bteten Markt im
Allgemeinen kaum zu Investitionen anregt.
Bei diesen Patienten wird die Diagnose oft nur
se\br spät gestellt , sie f ü\blen sic\b allein gelas
sen und leiden insbesondere unter dem Man
gel an verlässlic\ben Informationen zu i\brer
Krank\beit und an Mitteln, die an i\bre prakti
sc\ben, alltäglic\ben Probleme angepasst sind.
In den 1990er Ja\bren \bat Frankreic\b eine
Pionierrolle in der Betreuung von Patienten
mit seltenen Krank\beiten gespielt. Im An
sc\bluss an die Europäisc\be Empfe\blung «Sel
tene Krank\beiten: Eine Herausforderung für
Europa» von 2009
1), \baben auc\b andere Län
der Europas sc\brittweise nationale gesund
\beitspolitisc\be Strategien zugunsten der sel
tenen Krank\beiten entwickelt, die vor allem
dazu fü\brten, dass spezifisc\b auf die Be\band
lung dieser Krank\beiten ausgeric\btete Refe
renzzentren und Netzwerke gesc\baffen wur
den. In der Sc\bweiz \bat das BAG 2011 den
Auftrag er\balten, ein nationales Konzept für
seltene Krank\beiten auszuarbeiten. Ein zent
rales Problem beste\bt im Festlegen von Re
geln zur Vergütung der diagnostisc\ben Tests
und der spezifisc\ben, oft se\br teuren T\berapi
en. Die seltenen Krank\beiten werden nun von
den eidgenössisc\ben Gesund\beitsbe\börden
unter einem gesund\beitspolitisc\ben Blickwin
kel betrac\btet. Die Betreuung dieser Krank
\beiten erfordert eine globale Sic\bt und muss
auf Grundlagen und translationellen For
sc\bungsprogrammen gründen und zu klini
sc\ben T\berapiestudien fü\bren. Die Zusam
menarbeit von Klinikern und Forsc\bern ist
unentbe\brlic\b, es sollen Register gesc\baffen,
Ko\borten gebildet und spezifisc\be Betreuung
und Be\bandlungen entwickelt werden. Ebenso
notwendig ist die Zusammenarbeit zwisc\ben
Kranken, Patientenvereinigungen, öffentlic\b
en Gesund\beitsdiensten, Universitätsspitäl
ern und Industrie.
Das Portal für seltene Krankheiten
in der \bomandie
Seit einigen Ja\bren sc\bon werden in der fran
zösisc\bsprac\bigen Sc\bweiz Überlegungen zur
Betreuung der seltenen Krank\beiten an ge
stellt. Die Universitätsspitäler Genf und Lau
sanne besitzen bereits za\blreic\be klinisc\be
und paraklinisc\be Kompetenzen im Bereic\b
seltener Krank \beiten. Die Me\brza\bl dieser
spezialisierten Sprec\bstunden und/oder La
bortests sind in Orp\banet, der internationalen
Datenbank für seltene Krank\beiten aufgefü\brt
( www.orp\banet.c\b und www.orp\ba.net ). An
gaben zu den lokalen/regionalen Hilfsmög
lic\bkeiten sind den betroffenen Patienten und
Familien sowie den Erstversorgern jedoc\b
nic\bt immer leic\bt zugänglic\b. Diese Überle
gung \bat zur Sc\baffung eines gemeinsamen
Internetportals der beiden Universitätsklini
ken Centre Hospitalier Universitaire Vaudois
und Hôpitaux Universitaires de Genève ge
fü\brt ( www.info maladies rares.c\b ), mit dem
Zweck, i\bre klinisc\ben Angebote besser ein
se\bbar zu mac\ben.
Dieses Portal stützt sic\b auf den beste\benden
Daten von O r p\banet und gibt Auskunf t üb er die
verfügbaren spezialisierten Konsultationen in
der welsc\ben Sc\bweiz. Um Patienten, Familien
und Gesund\beitsfac\bleuten direkt antworten
zu können, sind zwei Beraterinnen für Genetik
am CHUV und HUG über die telefonisc\be Hel
pline und die Mailbox des Portals erreic\bbar.
Diese Beraterinnen können Patienten und
Fac\bleute i\bren Bedürfnissen ent sprec\bend an
die passende spezialisierte Sprec\bstunde wei
terleiten. Sie tragen somit auc\b zur Koordina
tion unter den versc\biedenen Spezialsprec\b
stunden an den beiden Kliniken CHUV und
HUG bei. Die beiden mit «An\bören und Bera
ten» beauftragten Mitarbeiterinnen werden
durc\b zwei medizinisc\be Koordinatoren unter
stützt, d. \b. zwei Kader ärzte mit lang jä\briger
Erfa\brung im Bereic\be der seltenen Krank\bei
ten. Deren Aufgabe ist es, die Aktivität der
versc\biedenen Spezialsprec\bstunden für sel
tene Krank\beiten unter einander zu koordinie
ren und den In\balt des Internetportals zu aktu
alisieren und auszubauen.
radiz
Klinischer Forschungsschwerpunkt
für seltene Krank heiten der Univer –
sität Zürich
An der Universität Züric\b und den universitä
ren Spitälern, insbesondere am Kinderspital,
beste\bt eine langjä\brige Tradition in der
Seltene Krankheiten in der Schweiz:
Von Forschung \bis Behandlung
Luisa Bonafé 1), Frédéric Barbey 2), Loredana D’Amato Sizonenko 3), Saskia R. Karg 4), Giatgen A.
Spinas 5), Romain Lazor 6), Matt\bias R. Baumgartner 7)
Übersetzung: Rudolf Sc\blaepfer, La C\baux de fonds
1) Médecin adjoint, médecine hautement spécialisée
dans les maladies rares du métabolisme et de
l’ostéogenèse. Division de pédiatrie moléculaire,
CHUV, Lausanne
2) Coordinateur du Portail romand des maladies
rares, Division de pédiatrie moléculaire, CHUV,
Lausanne
3) Coordinatrice Orphanet suisse; médecin coordina –
teur des maladies rares aux Hôpitaux Universi –
taires de Genève, ser vice de médecine génétique,
HUG
4) Wissenschaftliche Koordinatorin radiz – klinischer
Forschungsschwerpunkt für seltene Krankheiten,
Universität Zürich; Abteilung für Stoffwechsel –
krankheiten, Universitäts-Kinderspital Zürich
5) Ausschussmitglied radiz – klinischer Forschungs –
schwerpunkt für seltene Krankheiten, Universität
Zürich; Direktor, Klinik für Endokrinologie, Diabetes
und klinische Ernährung, UniversitätsSpital Zürich
6) Médecin Associé, unité des pneumopathies inters –
titielles et maladies pulmonaires rares, Service de
pneumologie, CHUV
7) Leiter radiz – klinischer Forschungsschwerpunkt
für seltene Krankheiten, Universität Zürich; Abtei –
lung für Stoffwechselkrankheiten, Universitäts-
Kinderspital Zürich
17In Eu ron p Eade
17In Europa
18
Grundlagenforsc\bung, sowie in der ange
wandten und klinisc\ben Forsc\bung von ver
erbten seltenen Krank\beiten. So wurde z. B.
die zystisc\be Fibrose, das Fanconi Syndrom
oder der sc\bwere kombinierte Immundefekt
(SCID) von Forsc\bern am Kinderspital Züric\b
erstbesc\brieben.
Seit September 2012 fördert die Universität
Züric\b versc\biedene klinisc\be Forsc\b
ungssc\bwerpunkte, darunter einen über sel
tene Krank\beiten – die «Rare Disease Initiati
ve Zuric\b» (radiz, www.radiz.uz\b.c\b ) . Mit r adiz
werden die Kompetenzen aus Forsc\bung und
Klinik der Zürc\ber Standorte Kinderspital,
Universität und Universitätsspital gebündelt
und unter dem Dac\b eines neuen klinisc\ben
Forsc\bungssc\bwerpunktes vereint. Ziel von
radiz ist es, Betreuung und Outcome von Pa
tienten mit seltenen Krank\beiten zu verbes
sern und gleic\bzeitig Züric\b als eines der
fü\brenden Zentren im Bereic\b «rare diseases»
in Europa zu positionieren. Um dieses Ziel
zu erreic\ben, werden beste\bende Stärken
ausgenützt und neue Synergien zwisc\ben
Grundlagen und klinisc\ben Forsc\bern mit
anerkanntem Fac\bwissen gesc\baffen. Diese
Vernetzung einer kritisc\ben Masse von me
dizinisc\ber, biologisc\ber und tec\bnisc\ber
Expertise wird es ermöglic\ben, neue Krank
\beitsentitäten und Krank\beitsmec\banismen
zu entdecken und bessere t\berapeutisc\be
Strategien für seltene Krank\beiten zu entwi
ckeln. Da die Pat\bologie seltener Krank\beiten
\bäufig auf Fe\blern von grundlegenden biolo
gisc\ben Prozessen und deren Regulation ba
siert, bietet ein besseres Verständnis dieser
Krank\beiten auc\b eine einzigartige Möglic\b
keit, Einblicke in allgemeine, grundlegende
Fragen der Biologie, der P\bysiologie und der
Prävention und Be\bandlung auc\b von \bäufigen
Krank\beiten zu gewinnen.
Die B asis von r adiz w ir d dur c\b ein inter dis zip
linäres Referenzzentrum für Patienten mit
seltenen Krank\beiten gebildet mit dem über
geordneten Ziel, Betreuung und Outcome zu
verbessern (siehe Abbildung) . Besondere
Aufmerksamkeit wird dabei auc\b der Transiti
on von der Kinder in die Erwac\bsenenmedizin
gesc\benkt, welc\ber eine zune\bmende Bedeu
tung zukommt, da immer me\br Kinder mit
seltenen Krank\beiten das Kindesalter überle
ben.
Der Forsc\bungsplan umfasst initial je ein
Projekt zu den Sc\bwerpunkten Neurologie,
«Body fluid \bomeostasis» sowie Stoffwec\b
sel. Die einzelnen Projekte basieren auf ei
nem translationellen Forsc\bungsansatz und
fü\bren von der Diagnose über die Erfor sc\bung von Krank\beitsmec\banismen und der
Entwicklung neuer T\berapiestrategien zu
klinisc\ben Studien zurück zum Patienten. Als
essentieller Teil des Programms soll das
Bewusstsein für seltene Krank\beiten in Zü
ric\b und der Sc\bweiz gestärkt und die Zu
sammenarbeit in versc\biedenen Bereic\ben
(lokal, national, international) gefördert wer
den. Zur Förderung des Nac\bwuc\bses wurde
er stmals A nf ang Juli 2013 die «1
st Rare Disea
ses Summer Sc\bool» durc\bgefü\brt, welc\be
nebst wissensc\baftlic\ben T\bemen auc\b et\bi
sc\be Aspekte wie die \bo\ben Kosten von
«orp\ban drugs» oder präsymptomatisc\be
genetisc\be Tests be\bandelt \bat. Daneben
werden mit einem für alle UZH Forsc\ber of
fenen «grant program» weitere innovative
klinisc\b translationelle For sc\b
ungs
projekte
gefördert.
Da über die Hälfte der seltenen Krank\beiten
im Kindesalter beginnen und am Kinderspital
\bierzu eine langjä\brige Erfa\brung und Traditi
on beste\bt, wird radiz im Forsc\bungszentrum
für das Kind (FZK) des Kinderspitals Züric\b
koordiniert.
Schlussfolgerung
Die neue politisc\be Dynamik zugunsten der
seltenen Krank\beiten in der Sc\bweiz \bat es
erlaubt, Initiativen zu ergreifen, um den za\bl
reic\ben Problemen im Zusammen\bang mit
diesen Krank\beiten zu begegnen.
Einige Universitätsspitäler in der Sc\bweiz
\baben Sc\britte unternommen, um der Proble
matik der seltenen Krank\beiten konkrete
Antworten entgegenzustellen, insbesondere
im Bereic\be der klinisc\ben und Grundlagen
forsc\bung und in enger Zusammenarbeit mit
Patienten und Gesund\beitsfac\bleuten.
Wesentlic\b ist die Zusammenarbeit unter den
Spitälern, die durc\b die Kantone beauftragt
wurden, im Bereic\be der seltenen Krank\bei
ten eine \boc\bspezialisierte Medizin zu entwi
ckeln. Zudem muss die internationale Zusam
menarbeit mit den bereits existierenden
europäisc\ben Netzwerken für seltene Krank
\beiten gefördert werden, um Erfa\brungen
auszutausc\ben und in europäisc\ben Projekten
mitzuarbeiten.
Nützliche Links
www.info maladies rares.c\b
www.orp\banet.c\b und www.orp\ba.net
www.proraris.c\b
www.eurordis.org
www.radiz.uz\b.c\b
Referenzen
1) Romain Lazor, Loredana D’Amato Sizonenko: les
maladies rares affectent 30 millions de personnes
en Europe. Bulletin des Médecins Suisse, 89: 15,
pp 636–638 (2008).
2) http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.
do?uri=OJ:C:2009:151:0007:0010:EN:PDF .
Die Autoren haben keine finanzielle Unter-
stützung und keine anderen Interessenkon –
flikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag
deklariert.
Korrespondenzadresse
Prof. Luisa Bonafé
Division de Pédiatrie Moléculaire
CHUV – CI 02 35
Av. P. Decker 2
1011 Lausanne
luisa.bonafe @ c\buv.c\b
Improve the Care and Outcome of Patients with Rare Diseases
Coordination wit\bin t\be C\bildren’s Researc\b Centre, University C\bildren’s Hospital Züric\b
Neurology Body Fluid Homeostasis Meta\bolism
Interdisciplinary Rare Disease Reference Centre
Patient Registries & Bio\banks
Diagnosis & Patient Care Pathomechanism & Etiology
Treatment
Genetic & p\benotypic c\baracterization
Disease models
Natural \bistory Drug
discovery
Et\bical, legal & \bealt\b economic aspects
17In Eu ron p Eade
17In Europa
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Prof. Luisa Bonafé , Division de Pédiatrie Moléculaire CHUV - CI 02-35 Frédéric Barbey Dr. mec. Loredana D’Amato Sizonenko , Spéc. FMH Pédiatrie Spéc. FMH Génétique Médicale Coordinatrice Orphanet Suisse Service de Médecine Génétique Centre Médical Universitaire Saskia R. Karg Giatgen A. Spinas Romain Lazor Prof. Dr. med. Matthias R. Baumgartner , Ordinarius für Stoffwechselkrankheiten, Leiter Abteilung für Stoffwechselkrankheiten, Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung, Zürich Andreas Nydegger