Nachruf verfasst von Oskar Jenni und Bea Latal (Entwicklungspädiatrie Universitätskinderspital Zürich)
Der Tod von Remo Largo hat uns alle überrascht, erschüttert und sehr traurig gemacht. Das Medienecho ist riesig und zeigt auf eindrückliche Weise die Bedeutung seines Werks. Sein Tod ist für uns eine Zäsur, die uns über sein Schaffen und sein Vermächtnis nachdenken lässt: Wird seine Stimme für die Kinder verstummen?
Nachruf
Remo Largo – vom Kind her denken
Von Oskar Jenni und Bea Latal (Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich)
D
er Tod von Remo Largo hat uns alle überrascht, erschüttert und sehr traurig
gemacht. Das Medienecho ist riesig und zeigt auf eindrückliche Weise die
Bedeutung seines Werks. Sein Tod ist für uns eine Zäsur, die uns über sein
Schaffen und sein Vermächtnis nachdenken lässt: Wird seine Stimme für die
Kinder verstummen?
Nein, das wird sie nicht, denn seine Bücher werden seine Worte weitertragen. Wir
Kinderärztinnen und Kinderärzte haben seine Haltung verinnerlicht, setzen sie in unse –
rem Alltag mit Kindern und ihren Familien um und werden seine Ideen weiterent wickeln.
Als Lehrer, Mentor und Freund lehrte Remo Largo uns jeden Tag, wie vielfältig das
Menschsein ist und was wir tun können, damit jeder von uns seine eigene Individuali –
tät leben kann. Was zeichnete den Menschen Remo Largo aus?
Er war neugierig und wissensdurstig.
Zwischen 1976 und 1978 arbeitete er an der Child Development Unit der University of
California in Los Angeles (UCLA) bei Arthur Parmelee. Der bekannte Entwicklungs –
pädiater war ein Pionier der Hirnforschung im Kindesalter. Remo war fasziniert von den
damals neuen technischen Möglichkeiten, das kindliche Gehirn sichtbar zu machen.
Zwar hatte er sich bereits vorher in Zürich viel Wissen über die kindliche Entwicklung
angeeignet, aber Hirnstrommessungen sollten ihm ein gänzlich neues Fenster zum
Kind eröffnen. Es kam jedoch alles ganz anders: Methodische und finanzielle Probleme
führten nach wenigen Monaten zum Abbruch des Projekts. Stattdessen widmete er
sich demjenigen Forschungszweig, den er später in Zürich fortsetzen sollte und der
Grundlage seines umfangreichen Werks wurde: der Beobachtung der kindlichen Ent –
wicklung.
Er war offen und interessiert.
Er war ein Mensch, der gut zuhören konnte, Ideen und Gedanken aufnahm, sie
ver
arbeitete und weiterentwickelte. Er besuchte die grossen amerikanischen Ent-
wicklungszentren und beschäftigte sich vertieft mit entwicklungspsychologischen
Themen. An der UCLA widmete er sich fortan einem Projekt über die Spiel- und Sprach –
entwicklung. So untersuchte er zahlreiche Kinder und zeichnete akribisch ihr Spiel-
verhalten in den ersten Lebensjahren nach. Er erkannte, dass Kinder von sich aus
neugierig sind und sich im Spiel entwickeln. In dieser Zeit las er intensiv die Schriften
des berühmten Schweizer Entwicklungs
forschers und Biologen Jean Piaget, die ihn in
der Folge sehr prägen sollten. Remo war fasziniert vom Gedanken, dass das Kind seine
Entwicklung durch die eigenen Handlungen selbst steuert. Seine Überzeugung wuchs,
dass wir Erwachsenen die Entwicklung des Kindes nicht beschleunigen können, sondern
einzig dafür sorgen müssen, dass sich das Kind wohl und mit all seinen Eigenschaften
und Eigenheiten vom Umfeld akzeptiert fühlt.
Er war liebevoll und warmherzig.
Diese Eigenschaften erachtete er für Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind als
zentral. Oft benutzte er das Wort «Geborgenheit». Er war überzeugt, dass sich ein
Kind nur dann geborgen fühlt, wenn seine Bezugspersonen verfügbar, verlässlich, ver-
traut und liebevoll sind. Aber auch seinen Freunden, Mitarbeitenden und Eltern seiner
Patientinnen und Patienten gab er Geborgenheit. Immer wenn man ihn traf, fragte er,
wie es einem, den Kindern oder anderen Familienmitgliedern geht. Die Frage war nie
eine Floskel, vielmehr lag ihm das Wohlergehen seines Gegenübers wirklich am Herzen.
Er hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer und hörte achtsam zu.
Er war umsichtig und visionär.
Mit neuen Erkenntnissen aus den USA im Gepäck übernahm er 1978 von seinem
Mentor Andrea Prader die Verantwortung für die Zürcher Longitudinalstudien, die 1954
initiiert wurden. Er startete eine zweite und sogar eine dritte Studie, baute diese aus
und liess sein umfangreiches Wissen einfliessen, das er in Amerika erworben hatte. So
untersuchte er zum Beispiel die Entwicklung des Spiels der Kinder, deren Denken und
die Sprache, den Schlaf, die Entwicklung der Sauberkeit und viele Aspekte des sozialen
Verhaltens. Dieser grosse Wissensfundus war die Grundlage für seine Bücher und das
Fit-Konzept. Dabei beobachtete er die Kinder, filmte und fotografierte sie. Er hatte ein
Auge für besondere Situationen und Momente. Es war grossartig, zusammen mit ihm
die kindlichen Verhaltensweisen im Video genau zu analysieren und auf diese Weise zu
verstehen. Das Video war Remo Largos Stethoskop.
Er war humorvoll und geduldig.
Innert Minuten war er mit Kindern in ein Spiel verwickelt, lachte und zog die Kinder in
seinen Bann. Auch Studierende und Assistierende waren fasziniert von seiner Art, auf
Kinder zuzugehen. Er stach unter den Dozierenden heraus, weil es ihm intuitiv gelang,
dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen und sich auf seinen individuellen Entwicklungs-
stand einzustellen. Auch hörte er sich die Geschichten der Familien geduldig an und
versuchte, das Umfeld des Kindes zu verstehen. Dabei betrachtete er die Welt immer
aus Sicht des Kindes, versuchte sich in das Kind hineinzuversetzen und „vom Kind her
zu denken“, wie er oft sagte. Er fokussierte sich auf die Stärken eines Kindes, akzep –
tierte die Schwächen oder übersah diese grosszügig – nicht nur bei Kindern, sondern
auch bei seinen Mitarbeitenden und Freunden. Es gelang ihm, jedem seinen Platz zu
geben und ein Team zu formen, das unterschiedliche Menschen vereint.
Er war beharrlich und provokativ.
Für viele war seine tiefe Überzeugung, dass die Anforderungen der Gesellschaft an die
Eigenschaften des Kindes angepasst werden müssen, pure Provokation. Er eckte mit
dieser Forderung besonders in der Bildungsszene an, weil die Schule bis zu einem
gewissen Grad von Gleichmacherei geprägt ist. Diese war für Remo Largo, dem über –
zeugten Hüter der kindlichen Vielfalt, ein Graus. Dabei musste er viel Ablehnung ertra –
gen, vor allem von Seiten der Pädagogik. „Schuster bleib bei deinen Leisten“ oder
„Als Kinderarzt hat Largo keine Ahnung, was in den Schulzimmern läuft“ waren häu –
fige Kritiken, wenn er wiederholt provokante Thesen einbrachte. Eine grosse Genug-
tuung erfuhr er 2006, als er den Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich
erhielt und in der Laudatio hören durfte, dass er „als Kinderarzt eigentlich ein gebore –
ner Pädagoge ist“.
Er war kommunikativ und konnte begeistern.
Wie kein anderer hat er es verstanden, das komplexe Wissen über die Entwicklung von
der Geburt bis in das Erwachsenenalter in einer klaren und verständlichen Sprache zu
vermitteln; seine Bücher sind ohne Zweifel der Beweis dafür. Wir haben diese Bega –
bung im gemeinsamen Alltag auch gespürt. Wenn man ihm beispielsweise wissen –
schaftliche Daten präsentierte, dann fragte er jeweils am Schluss: „Und was ist deine
Botschaft?“ Er machte keine Forschung im Elfenbeinturm, sondern dachte stets daran,
welche Bedeutung die wissenschaftlichen Befunde für den Umgang mit den Kindern
und Familien haben könnten. Mit diesem Transfer von Erkenntnissen der Forschung in
die Gesellschaft war er seiner Zeit weit voraus, denn erst in den letzten Jahren wird
zunehmend ein öffentlicher Dialog über die Wissenschaft gefordert und gepflegt.
Niemand war in den letzten 30 Jahren im deutschsprachigen Raum besser in der Lage,
den umfangreichen Wissensfundus über die kindliche Entwicklung in unserer Gesell –
schaft so tief zu verankern wie Remo Largo. Dabei hat er das Verständnis für die kind –
liche Entwicklung und deren Vielfalt nachhaltig erweitert und uns allen vor Augen
geführt, dass wir uns an das Kind anpassen müssen und nicht das Kind sich an uns.
Diese kindorientierte Haltung ist das grosse Vermächtnis, das Remo Largo uns allen
hinterlassen hat.
Seine Stimme ist am 11. November 2020 verstummt, aber sein Menschenbild wird
in uns weiterleben.