Fachzeitschrift >

Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie

Leserbrief

Leserbrief und Antwort

Abweichende Meinung zum Basler Behandlungskonzept der Enkoprese

Dr. med. Daniel Bracher

Der Artikel von Margarete Bolten (Paediatrica 32, 2-2021 S. 4-16) hinterlässt mich zwiespältig: Ich teile die Auffassung der Autorin, dass der Enkoprese „dysfunktionale Beziehungsmuster zwischen Eltern und Kind“ zugrunde liegen, dass die Kinder oft „stark oppositionelles Verhalten zeigen“, dass Eltern annehmen „der Sohn würde absichtlich einkoten“ usw., kurzum, dass von beiden Seiten erhebliche, zum Teil unterbewusste Aggressionen vorliegen.

Grundlage der Therapie muss es daher sein, diese Aggressionen anzugehen, aber hier fällt die Autorin in das alttestamentliche „Strafe muss sein“. Sie fordert „unerwünschtes Verhalten (z.B. Retentionsmanöver und Einkoten) sollte während des gesamten Therapieverlaufs konsequent mit negativen Konsequenzen verknüpft werden (Einbeziehen des Kindes in das Reinigungsritual, Kind kann nicht zum Spielen das Haus/die Wohnung verlassen). Dieser Punkt ist im Behandlungsplan ausgesprochen relevant …. das unerwünschte Verhalten kann nur reduziert werden, wenn diese für das Kind auch mit «Kosten» verbunden ist“.

Wer sich eingehend mit zeitgemässen, (neutestamentlichen) Formen der Therapie auseinandersetzen möchte, findet bei Oehler1) eine mit Beispielen unterlegte Darstellung, wie defizitäre oder destruktive Aggression in konstruktive Aggression gewandelt werden kann. Solche Therapien sind zwar zeitaufwändig, aber möglich; denn es geht um die Familiendynamik als Ganzes und weniger um das Kind alleine. Das Kind muss spüren, dass es als Persönlichkeit in allen Facetten wahrgenommen und geliebt wird. Dann besteht weniger Grund für destruktive Aggression.

Als rasche Massnahme geeignet sind verhaltenstherapeutische Ansätze, wie sie Bolten darstellt, die aber in einer anderen Geisteshaltung durchzuführen sind, nämlich:

In der Familie straft man nicht. Der Staat straft, die Gesellschaft straft, die Kern-Familie nie. Viel wirksamer ist, dass sich Eltern leicht enttäuscht zeigen, und zulässig ist (aber nicht bei Enkoprese, sondern bei Ausrasten) allenfalls die Kühlbox. 2)
Interessant ist, dass Bolten selber in die berühmte „richtige Richtung“ geht, wenn sie darauf hinweist, dass

a) Kinder oft den Zusammenhang zwischen Fehlverhalten und Strafen gar nicht verstehen und dass

b) Ausschimpfen eine negative Aufmerksamkeit sein kann, welche das Verhalten verstärkt.

  • Geeignet ist das von Bolten gut dargestellte „möglichst positive regelmässige Toilettentraining “, welches ich in zwei Punkten anders empfehle:
    • Zwar externalisiere ich ebenfalls das Problem, verwende dazu aber kein „Kaki-Monster“, sondern empfehle, dem Kind unaufgeregt zu sagen „der Darm müsse üben“.
    • Ich setze weniger auf Belohnung mit Token als auf verbale Anerkennung, aber auch diese soll unaufgeregt, leichthin sein. („Machet kes Gschyss“). 3)

Referenzen

  1. Oehler Kurt Theodor: «Mysterium Mensch». Psychoanalytische Interpretation von Mensch, Gruppe, Gesellschaft und Religion. Berlin: Frank & Timme, 2021
  2. Bracher D.: Hinweise für Eltern kranker Kinder/ Erziehungsgrundsätze. E-book im Applestore.
  3. id: /Einkoten.

Antwort auf den Leserbrief von Dr. med. Daniel Bracher

Dr. rer. nat. Margarete Bolten und Dr. med. Corinne Légeret

Sehr geehrter Herr Dr. Bracher,
Liebe Redaktion der Paediatrica

Wir danken Ihnen für die Initiative einer kritischen Diskussion zur interdisziplinären Behandlung von funktionellen Ausscheidungsstörungen. Wir möchten an dieser Stelle gerne zu den Punkten von Herr Dr. Bracher Stellung nehmen. Er argumentiert, dass wir in unserem Programm zu wenig auf die Beziehungsebene zwischen Eltern und Kind abzielen und die Symptome der Kinder zwar mit einer verhaltenstherapeutisch basierten Behandlung schnell verschwinden lassen, jedoch das eigentliche Problem dadurch nicht gelöst sei. Uns ist nicht ersichtlich, was Herr Dr. Bracher mit „Grundlage der Therapie muss es daher sein, diese Aggressionen anzugehen“ genau meint. Der Autor des Leserbriefes zitiert hier „zeitgemässe, (neutestamentliche) Formen der Therapie“ und empfiehlt den Lesern Oehler (2021). Bei dieser Publikation handelt es sich aber weder um eine empirische Therapiestudie, noch befasst sich diese theoretische Abhandlung spezifisch mit der Behandlung von funktionellen Defäkationsstörungen bzw. Enkopresis. Herr Dr. Bracher empfiehlt weiter, dass das „Umwandeln von destruktiver Aggression in konstruktive Aggression notwendig sei“ und „dass Therapien zeitaufwändig, aber möglich seien; denn es geht um die Familiendynamik als Ganzes und weniger um das Kind alleine“.

Warum eine schnelle Behandlung des Einkotens per se problematisch sein soll, ist uns nicht klar. Wir behandeln im Rahmen des Basler Konzepts Familien mit Kindern, welche an schwer ausgeprägten funktionellen Defäkationsstörungen leiden. Diese Kinder haben oftmals eine lange Leidensgeschichte, zum Teil mit multiplen frustranen Behandlungsversuchen hinter sich. Einige unserer Patienten sind deutlich dem Kleinkindalter entwachsen und erleiden schwerste Folgeprobleme durch das Einkoten (soziale Stigmatisierung, Schulausschluss, Platzierung in einer Jugendhilfeeinrichtung etc.). Diese Kinder und ihre Familien haben einen erheblichen Leidensdruck und wünschen sich eine schnelle Verbesserung der Situation.

Auch muss betont werden, dass die funktionellen Defäkationsstörungen ein multifaktorielles Geschehen sind, bei dem sowohl somatische als auch psychologische Faktoren eine Rolle spielen1,2) . In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur finden sich keine Einzelursachen, wie z.B. eine Bindungs- und Beziehungsstörung. Vielmehr ist eine belastete Eltern-Kind-Beziehung die Folge des häufigen Einkotens und den Attributionen der Eltern hinsichtlich eines willentlichen Einkotens durch das Kind.

Das Basler Behandlungskonzept bei funktionellen Defäkationsstörungen basiert auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Forschung, welche ein strukturiertes, verhaltensbasiertes Vorgehen empfiehlt3-9). Unser Programm zielt, neben der Beachtung der somatischen Faktoren, unter anderem darauf ab, ungünstige elterliche Verhaltensinterpretationen zu reduzieren und damit die Eltern-Kind-Beziehung zu verbessern. Die klare Strukturierung und die verhaltensorientierten Teilschritte führen zu einer deutlichen Stressreduktion, denn die meisten Familien haben, bevor sie in unser Programm aufgenommen wurden, verschiedene eigene Lösungsversuche ausprobiert. Oftmals werden bereits einzelne Therapiebausteine angewendet, diese jedoch zum Teil nicht mit dem gewünschten Erfolg. Diese wiederholten Misserfolge führen dann wiederum zu Enttäuschungen und negativen Emotionen bei den Eltern, was die Eltern-Kind-Beziehung weiter belastet. Indem man sowohl mit dem Kind als auch den Eltern klare verhaltensorientierte Änderungsziele und Handlungsschritte abspricht und diese visuell mittels Verhaltensregeln untermauert, wird ein erhebliches Mass an familiärem Stress reduziert.

Auch das Argument, dass die Anwendung von so genannten „Logischen Konsequenzen“ nichts Anderes als alttestamentliche Strafen sei, können wir nicht teilen. Folgendes möchten wir hierzu festhalten. Die menschliche Existenz ist durch permanentes Lernen und damit verbundenen Anpassungen geprägt. Jede Handlung hat in irgendeiner Art und Weise eine bestimmte Folge (oder Konsequenz), die dann wiederum vom Individuum beurteilt wird und damit zukünftiges Verhalten beeinflusst. Wenn wir z.B. unsere Patienten regelmässig, übermässig lange warten lassen, werden diese in der Zukunft möglicherweise keine weiteren Termine mehr vereinbaren und wir spüren die negativen Konsequenzen unseres Verhaltens. Wenn ein Kleinkind mit Bauklötzen nach seinem Bruder wirft, nehmen Eltern, auch um den Bruder zu schützen, die Bauklötze aus der Reichweite des Kindes und geben sie erst nach einer gewissen Zeit zurück. Logische Konsequenzen sind also Reaktionen auf ein Verhalten des Kindes mit einem klaren, sofortigen, verhältnismässigen Bezug zu dem, was Eltern zu reduzieren suchen. Die logische Folge muss immer verlässlich und respektvoll wiedergegeben werden10,11). Wenn ein 10-jähriges Kind regelmässig einkotet, u.a. weil es vielleicht nicht 3-mal täglich für 10 Minuten auf der Toilette sitzt, wird es in das Reinigungsritual einbezogen (ohne elterliche Vorwürfe und Aggressionen, sondern ruhig und klar in der Haltung). Dem Kind wird damit die Verantwortung für sein eigenes Handeln übergeben, was im Nebeneffekt auch seine Selbstständigkeit stärkt. Aus unserer Sicht hat das einen erheblich stressreduzierenden und beziehungsverbessernden Effekt, da die Eltern nicht widerwillig und voller Groll die Unterwäsche des Kindes reinigen und anschliessend mit Ablehnung und Wut auf das Kind reagieren. Weiterhin wird durch dieses Prozedere die Motivation am Toilettentraining mitzuwirken erhöht. Natürlich, und dies haben wir in unserem Artikel auch betont, erfordert der Einbezug des Kindes in das Reinigungsritual ein ausreichendes Entwicklungsalter. Doch selbst kleine Kinder können beim Ausziehen der Unterwäsche und der Vorbereitung der Reinigung mitwirken und das ist entscheidend.

Auch die anderen logischen Konsequenzen im Rahmen unseres Programms möchten wir genauer erläutern. Worum handelt es sich beim Unterbinden von Retentionsmanövern? Wenn das Kind beginnt, den Kot durch Retention zurückzudrängen, sollten Eltern bestimmt, aber freundlich das Kind zur Toilette schicken oder begleiten. Das Kind erst nach dem Toilettengang nach draussen zum Spielen zu schicken, ist unserer Ansicht nach ebenfalls keine Strafe. Es ist unserer Ansicht nach vergleichbar mit dem, was viele Eltern im Zusammenhang mit den Hausaufgaben ihrer Kinder tun würden: Wenn ein Kind, anstatt die Hausaufgaben zu erledigen, lieber draussen spielen will, bestehen sehr viele Eltern auf ein vorheriges Erledigen der Hausaufgaben.

In unserem Behandlungsprogramm versuchen wir Eltern darin zu unterstützen, ihre eigenen Grenzen besser wahrzunehmen und dem Kind mit Respekt und Liebe zu begegnen. Um die Bestrafung des Einkotens geht es dabei in keinster Weise. Es bleibt bei uns der Eindruck, dass es sich bei dieser Darstellung um den klassischen „Streit der Therapierichtungen“ handelt, den es unserer Ansicht nach, unseren Patientinnen zugute, zu begraben gilt.

Referenzen

  1. Colombo, J.M., M.C. Wassom, and J.M. Rosen, Constipation and Encopresis in Childhood. Pediatr Rev, 2015. 36(9): p. 392-401; quiz 402.
  2. von Gontard, A., Enkopresis. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 2007. 56(6): p. 493-510.
  3. Singh, H. and F. Connor, Paediatric constipation: An approach and evidence-based treatment regimen. Aust J Gen Pract, 2018. 47(5): p. 273-277.
  4. McDonald, L.A., A.C. Rennie, and D.M. Tappin, Constipation and soiling–outcome of treatment at one year. Scott Med J, 2004. 49(3): p. 98-100.
  5. Levitt, M. and A. Pena, Update on pediatric faecal incontinence. Eur J Pediatr Surg, 2009. 19(1): p. 1-9.
  6. Reid, H. and R.J. Bahar, Treatment of encopresis and chronic constipation in young children: clinical results from interactive parent-child guidance. Clin Pediatr (Phila), 2006. 45(2): p. 157-64.
  7. Borowitz, S.M., et al., Treatment of childhood encopresis: a randomized trial comparing three treatment protocols. J Pediatr Gastroenterol Nutr, 2002. 34(4): p. 378-84.
  8. Smith, L., P. Smith, and S.K. Lee, Behavioural treatment of urinary incontinence and encopresis in children with learning disabilities: transfer of stimulus control. Dev Med Child Neurol, 2000. 42(4): p. 276-9.
  9. Brooks, R.C., et al., Review of the treatment literature for encopresis, functional constipation, and stool-toileting refusal. Ann Behav Med, 2000. 22(3): p. 260-7.
  10. Rincon, P., et al., Effectiveness of a Positive Parental Practices Training Program for Chilean Preschoolers› Families: A Randomized Controlled Trial. Front Psychol, 2018. 9: p. 1751.
  11. Leijten, P., et al., Meta-Analyses: Key Parenting Program Components for Disruptive Child Behavior. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry, 2019. 58(2): p. 180-190.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Daniel Bracher Pädiater FMH im Ruhestand, Bern

Dr. rer. nat.  Margarete Bolten Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Klinik für Kinder- und Jugendlichen (UPKKJ) & Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)

Dr. med.  Corinne Légeret Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)