Integrative Pädiatrie Die grosse Nachfrage der Bevölkerung nach Komplementärmedizin als Erweiterung des konventionellen Behandlungsspektrums ist gut bekannt. Dies gilt für Erwachsene1) wie für Kinder 2) und wurde für letztere gerade auch in der Schweiz mehrfach untersucht3),4). Während ein entsprechendes Angebot für Erwachsene hierzulande sowohl ambulant als auch (in begrenztem Umfang) stationär zur Verfügung steht, war die Komplementärmedizin im Bereich der Pädiatrie bisher auf den ambulanten Sektor beschränkt. Als Pionier hat die Klinik für Pädiatrie am HFR Freiburg – Kantonsspital mit der systematischen Einführung von komplementärmedizinischen Therapien ab Januar 2015 das erste Zentrum für integrative Pädiatrie in der Schweiz begründet. Das komplementärmedizinische Angebot, das im Sinne der integrativen Medizin immer in Ergänzung zu konventionellen Therapien eingesetzt wird, umfasst gegenwärtig Arzneimittel und pflegerische Massnahmen aus dem Bereich der anthroposophischen Medizin; eine Erweiterung um künstlerische Therapien ist angedacht.
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Konventionelle MedizinDie in westlichen Ländern vorherrschende wissen
–
schaftliche Medizin («Schulmedizin»)
Alternative Medizin Therapiemethoden, die diejenigen der konventio
–
nellen Medizin ersetzen
Komplementäre Medizin Therapiemethoden, die diejenigen der konventio
–
nellen Medizin ergänzen und erweitern
Integrative Medizin Ganzheitlicher Ansatz einer koordinierten Anwen
–
dung von konventionellen und komplementären
Therapiemethoden mit einem Fokus auf interpro –
fessionelle Zusammenarbeit
Ta b e l l e : Begriffserläuterungen
Integrative Pädiatrie
Die grosse Nachfrage der Bevölkerung nach
Komplementärmedizin als Erweiterung des
konventionellen Behandlungsspektrums ist
gut bekannt. Dies gilt für Erwachsene
1) w ie f ür
Kinder 2) und wurde für letztere gerade auch
in der Schweiz mehrfach untersucht 3), 4) . Wäh –
r end ein ent spr e chendes A ngeb ot f ür Er wach –
sene hierzulande sowohl ambulant als auch
(in begrenztem Umfang) stationär zur Verfü –
gung steht, war die Komplementärmedizin im
Bereich der Pädiatrie bisher auf den ambulan –
ten Sektor beschränkt. Als Pionier hat die
Klinik für Pädiatrie am HFR Freiburg – Kan –
tonsspital mit der systematischen Einführung
von komplementärmedizinischen Therapien
ab Januar 2015 das er s te Zentr um f ür integ r a –
tive Pädiatrie in der Schweiz begründet. Das
komplementärmedizinische Angebot, das im
Sinne der integrativen Medizin immer in Er –
gänzung zu konventionellen Therapien einge –
setzt wird, umfasst gegenwärtig Arzneimittel
und pflegerische Massnahmen aus dem Be –
reich der anthroposophischen Medizin; eine
Erweiterung um künstlerische Therapien ist
angedacht.
Für die B eg r if fe integ r ati ve Pädiatr ie und inte –
grative Medizin gibt es zahlreiche Definitio –
nen, wobei es in allen diesen Definitionen im
Kern um einen ganzheitlichen Ansatz geht,
welcher komplementärmedizinische und kon –
ventionelle (schulmedizinische) Behandlungs –
methoden integriert und eine interprofessio –
nelle Zusammenarbeit anstrebt
5). Für die
Integrative Pädiatrie am HFR Freiburg
– Kantonsspital
Benedikt M. Huber, Romy Schneider, Valentine Bapst, Tido von Schoen-Angerer, Johannes
Wildhaber, Klinik für Pädiatrie, HFR Freiburg – Kantonsspital, Freiburg
Autoren dieses Beitrages ist die Unterschei-
dung der Begriffe konventionell, komplemen –
t är, alter nati v und integ r ati v eine ent scheiden –
de Voraussetzung für eine sachliche
Auseinandersetzung auf diesem Gebiet (siehe
Tabelle 1) . Eine Definition für die integrative
Medizin in der Pädiatrie wurde von der
Schweizer Interessengruppe für Integrative
Pädiatrie (SIGIP) erarbeitet und in dieser
Zeitschrift publiziert
6).
Anthroposophische Medizin
Für die komplementärmedizinische Erweite –
rung in unserer Klinik wurde die anthroposo –
phische Medizin ausgewählt, da ihr ein ganz –
heitliches Menschenbild zugrunde liegt und
es bereits vielfältige positive Erfahrungen mit
ihrer Integration in Krankenhäuser gibt
7).
Die anthroposophische Medizin bietet ein
differenziertes Verständnis des Menschen
und seiner Situation in Gesundheit und Krank –
heit und stellt damit auch eine konzeptionelle
Grundlage für die Integration von komplemen –
tären und konventionellen Behandlungsme –
thoden zur Verfügung. Sie baut auf den
Methoden und Prinzipien der naturwissen –
schaftlichen Medizin auf und fügt zu diesen
Forschungsergebnisse über das Wesen des
Lebendigen, des Seelischen und des Geistig-
Individuellen hinzu, wie sie durch die Metho –
den der anthroposophischen Geisteswissen –
schaft erarbeitet werden. Auf diese Weise
bietet die anthroposophische Medizin ein
über die naturwissenschaftlichen Modelle hinausgehendes anthropologisches Konzept
an, das den Menschen in seiner Ganzheit als
körperlich-lebendig-seelisch-geistiges Wesen
beschreibt
7). Das führt über ein erweitertes
Gesundheits- und Krankheitsverständnis
auch zu einer Erweiterung des konventionel –
len Therapiespektrums. Dieses umfasst unter
anderem spezifisch-anthroposophische, bei
der Swissmedic zugelassene Arzneimittel,
äussere Anwendungen und Kunsttherapien.
Weil die Behandlungen mehrheitlich auf ge –
sundheitserhaltende bzw. gesundheitswieder –
herstellende Prozesse abzielen, stehen be –
sonders die Selbstregulation des Organismus
und die Selbstheilungskräfte des individuellen
Patienten im Fokus der Therapien.
Pilotphase
Im Sinne einer koordinierten Einführung der
komplementärmedizinischen Therapien, die
ohne Schaffung neuer Stellen im Ärzte- und
Pflegeteam sowie ohne externes Sponsoring
bzw. finanzielle Unterstützung realisiert wur –
de, war das Angebot in einer Pilotphase von
18 Monaten auf stationär behandelte Patien –
ten mit respiratorischen Krankheiten be –
schränkt. Dafür wurden Behandlungsproto –
kolle für die Krankheitsbilder Bronchiolitis,
Bronchitis/Asthma bronchiale und Pneumo –
nie entwickelt. Neben den konventionellen
Therapien als unverzichtbare Basis beinhalten
diese oral und inhalativ verabreichte anthro –
posophische Medikamente sowie äussere
Anwendungen in Form von Wickeln und Ein –
reibungen. Das Einverständnis der Eltern für
diese Therapien musste selbstverständlich
gegeben sein.
Die Pilotphase wurde durch eine Evaluation
begleitet, die separat publiziert wurde
8).
Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 351
Patienten mit einer respiratorischen Erkran –
kung hospitalisiert, davon erhielten 136 (39%)
auch die anthroposophischen Therapien. Be –
zogen auf die drei Diagnosekategorien lag der
relative Anteil komplementärmedizinisch be –
handelter Patienten bei 24% (Bronchitis/
Asthma), 44% (Bronchiolitis) und 47% (Pneu –
monie). Eine Personalbefragung, die 6 Mona –
te nach Beginn der Pilotphase durchgeführt
wurde, ergab insgesamt eine sehr positive
Resonanz , wob ei die A nt wor ten ein heter oge –
nes Bild wiederspiegeln, das von grossem
Interesse und Zufriedenheit bis zu Skepsis
und Zurückhaltung reicht. Wichtige positive
Punkte waren das erweiterte Therapiespekt –
rum, der nähere Kontakt zu den Patienten,
ruhigere und entspanntere Kinder sowie ein
42 BegreeifBeseeglsä
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stärkerer Einbezug der Eltern in die Pflege.
Kritische Punkte betrafen ungenügende
Kenntnisse der neuen Therapien, den zusätz-
lichen zeitlichen Aufwand für die Pflege sowie
die allgemeine Herausforderung, neue Be –
handlungsmethoden in bestehende Abläufe
zu integrieren. Letzteres könnte dazu beige –
tragen haben, dass die praktische Umsetzung
der Therapien im Verlauf der 18-monatigen
Pilotphase quantitativ deutlich zugenommen
hat. Eine Befragung von Eltern komplement –
ärmedizinisch behandelter Patienten zeigte
eine sehr hohe Zufriedenheit. Danach hatten
96% der Eltern den Eindruck, dass die Thera –
pien etwas oder sehr zum Gesundwerden ih –
rer Kinder beigetragen hatten, und 94% gaben
an, dass sie Massnahmen gelernt hätten, die
sie zukünf tig f ür die P fl ege ihr er K inder zuhau –
se einsetzen wollten. Und schliesslich ergab
die Analyse der Wirtschaftlichkeit der Pilot –
phase, bei der die Ausgaben für Fortbildungen
des Teams und die laufenden Kosten für Arz –
neimittel und Material den Einnahmen durch
die zusätzlichen Erstattungen der Versiche –
rungen auf Grundlage des Swiss-DRG CHOP-
Codes für «komplementärmedizinische Kom –
plexbehandlung» gegenüber gestellt wurden,
eine ausgeglichene Bilanz.
Weiterentwicklung und Ausbau des
Angebots
Als Folge der insgesamt positiven Erfahrun –
gen und Ergebnisse der Pilotphase wird das
komplementärmedizinische Angebot im Rah –
men des integrativ-medizinischen Konzepts
seit Sommer 2016 für alle stationären und
ambulanten Patienten unserer Klinik weiter
entwickelt und schrittweise ausgebaut. Dazu
gehört auch eine eigene Sprechstunde für
anthroposophische Medizin sowie die Bera –
tung ärztlicher Kollegen auf Anfrage. In jeder
Situation wird sorgfältig geprüft, ob der Ein –
satz von komplementärmedizinischen Thera –
pien möglich und sinnvoll ist und gewünscht
wird. Da die anthroposophische Medizin zu
den in der Schweiz offiziell anerkannten kom –
plementärmedizinischen Richtungen zählt, ist
eine Übernahme der Kosten durch die obliga –
torische Krankenpflegeversicherung gewähr –
leistet
9). Das betrifft die Erstattung der The –
rapien während einem stationären Aufenthalt
sowie in den meisten Fällen die Kostenüber –
nahme bzw. Kostenrückerstattung von ambu –
lant verordneten Therapien.
Die Erfahrung zeigt, dass sich durch die Kom –
bination von schulmedizinischen und komple –
mentärmedizinischen Therapien und damit durch eine gleichzeitige Behandlung auf ver
–
schiedenen Ebenen häufig synergistische Ef –
fekte erzielen lassen, die sich günstig auf den
Heilungsverlauf auswirken. Die Tatsache, dass
die wissenschaftliche Evidenz für die Wirk –
samkeit und Sicherheit von Komplementär –
medizin bei Kindern heute vielfach noch un –
genügend ist, sollte zunächst kein
Hinderungsgrund für deren Anwendung sein,
sofern nicht von vornherein ein Sicherheitsri –
siko bekannt ist; im Gegenteil, sollte das
vielmehr ein Auftrag sein, die eingesetzten
Therapien seriös zu überwachen, systema –
tisch zu evaluieren und wo möglich, durch
klinische Studien gezielt zu erforschen
5). In
diesem Sinne engagiert sich unsere Klinik in
Forschungsprojekten zur Wirksamkeit und
Sicherheit einzelner komplementärer Thera –
pien in Zusammenarbeit mit dem Institut für
Komplementärmedizin der Universität Bern,
der Filderklinik bei Stuttgart (Deutschland)
und anderen Partnern.
Gerade durch die verschiedenen Therapiemo –
dalitäten spielt die Zusammenarbeit aller an
der Therapie Beteiligten eine wesentliche
Rolle in der integrativen Medizin. Beim stati –
onär en A ngeb ot s teht dab ei die inter profes si –
onelle Zusammenarbeit von Ärzten und Pfle –
genden im Zentrum. Hinzu kommt der aktive
Einbezug der Eltern. Dabei sind es häufig ge –
rade die therapeutischen Massnahmen der
Komplementärmedizin, die eine aktive Betei –
ligung der Eltern erlauben und darüber die
Bildung einer echten therapeutischen Koaliti –
on zwischen medizinischem Personal und El –
tern ermöglichen. Davon profitieren nicht nur
die erkrankten Kinder, es steigt auch die Zu –
friedenheit der Eltern, wenn sie ihr Kind in
seinem Krankheits- und Genesungsverlauf
selbst aktiv unterstützen können und dadurch
aus der Abhängigkeit von überlasteten medi –
zinischen Dienstleistungen heraus kommen.
Für die ärztlichen und pflegerischen Mitarbei –
ter unserer Klinik werden regelmässig Schu –
lungen angeboten und externe Weiterbildun –
gen vermittelt, um die für das Erbringen der
Leistungen notwendigen Kenntnisse und Fä –
higkeiten zu erwerben. Bei Interesse können
sich Assistenz- und Oberärzte, die aktiv an
den komplementärmedizinischen Aktivitäten
teilnehmen, Zeiten für den Fähigkeitsausweis
für anthroposophisch erweiterte Medizin des
SIWF/VAOAS anrechnen lassen.
Kontakt
Bei Fragen oder Interesse bitten wir um Kon –
taktaufnahme an folgende Adresse:
Klinik für Pädiatrie
Zentrum für Integrative Pädiatrie
HFR Freiburg – Kantonsspital
Chemin des Pensionnats 2-6
1708 Freiburg
Tel 026 306 35 30
Fax 026 306 35 11,
benedikt.huber@ h-fr.ch
Referenzen
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Korrespondenzadresse
Benedikt M. Huber
benedikt.huber@ h-fr.ch
42 BegreeifBeseeglsä
42 Begrifsl
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Benedikt Huber , Freiburg Dr. med. Romy Schneider , Klinik für Pädiatrie, Kantonsspital HFR Fribourg Dr. med. Valentine Bapst , Klinik für Pädiatrie, Kantonsspital HFR Fribourg Tido von Schoen-Angerer , Klinik für Pädiatrie, Kantonsspital HFR Fribourg Prof. Dr. med. Johannes Wildhaber , Freiburg