Die Lokalkalanästhesietechnik zur Behandlung von Hautverletzungen beim Kind basierthauptsächlich auf der periläsionellen Infiltration mit Lidocain. Diese Lokalinfiltration ist im Allgemeinen schmerzhaft und erhöht Furcht und Unruhe des jungen Patienten. 1980 haben Pryor et al.die Vorteile eines topischen Anästhetikums (TAC) beschrieben.
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 19 No. 2 2008
Einleitung
Die Lokalkalanästhesietechnik zur Behan
dlung von Hautverletzungen beim Kind
basiert hauptsächlich auf der periläsionellen
Infiltration mit Lidocain
1), 2), 5) . Diese Lokalin
filtration ist im Allgemeinen schmerzhaft
und erhöht Furcht und Unruhe des jungen
Patienten
1), 2), 6), 9) . 1980 haben Pryor et al. 3)
die Vorteile eines topischen Anästheti
kums (TAC) beschrieben. Die Lösung TAC
(Tetracain, Adrenalin, Kokain) ist in den
USA seit den 90er Jahren geläufig, jedoch
in Europa nicht im Handel
4). Studien zei
gen, dass die topische Anästhesie mit
dem TAC Gel genau so gut funktioniert wie
die Lokalanästhesie mitttels Lidocainfil
tration
3), 5) . Die Compliance der Pa tienten
ist beim TAC Gel eindeutig besser, da
auf die Spritze verzichtet werden kann
5). Um
1995 begann man nach Alternativen zum
TAC Gel zu suchen, aus Kostengründen, we
gen der möglichen Toxizität und den Risiken,
die die Aufbewahrung eines Narkotikums
mit sich bringt
6)–8) . Es scheint, dass der LET
Gel (Lidocain, Epinephrin, Tetracain) ebenso
wirksam, billiger und weniger toxisch ist
6–10).
In Europa wird dises Gel im Allgemeinen
in Spitalapotheken hergestellt
11). In einer
prospektiven Studie im Notfalldienst einer
Universitätskinderklinik wurde ein in der
Spitalapotheke hergestelltes LET Gel evalu
iert, um dessen Wirksamkeit, als alleiniges
Anästhetikum eingesetzt, gegen Schmerzen
beim Nähen einfacher Hautverletzungen
beim Kind zu beweisen.
Methodik
Es handelt sich um eine prospektive Beo
bachtungsstudie. Daten wurden von Novem
ber 2004 bis Dezember 2005 (13 Monate) im pädiatrischen Notfalldienst des Hôpital
de l’Enfance de Lausanne (HEL)–CHUV ge
sammelt, wo rund 8000 chirurgische Notfäl
le behandelt werden, wovon 1250 Wundver
sorgungen. Es wurden Fragebogen mit An
gaben zu Alter, Geschlecht, Lokalisation der
Wunde, Anzahl Nähte, Dauer der Gelapplika
tion und Schmerzevaluation ausgefüllt. Die
Schmerzevaluation (Tab.1) erfolgte für über
5 jährige Kinder mit Hilfe des EVA Scale
(Abb.1) und für unter 5 Jährige mit Hilfe der
POCIS Scale (Abb.2) bei Verletzungen, die
den Kriterien zur Anwendung des LET Gels
als einzige Lokalanästhesie entsprachen,
das heisst Verletzungen des Gesichtes und
der Kopfhaut sowie kleinere Verletzungen
anderer Lokalisation, unter Ausschluss der
Schleimhäute und der Extremitäten (Nase,
Finger, Zehen, Penis). Letzteres wegen der
vasokonstriktorischen Wirkung des im Gel
enthaltenen Adrenalins.
Es wurden 397 Fragebogen ausgefüllt, aber
nur 166 verwertet (78 unvollständige Ant
worten, 153 Wundversorgungen mit zusätz
licher Analgesie, wovon 150 mit MEOPA und
3 mit wundnaher Xylokainfiltration). Von den
166 in die Studie eingeschlossenen Patien
ten erhielten 11 zusätzlich Schmerzmittel (Paracetamol oder NSAR per os); diese
Patienten wurden miteinbezogen, da die
zusätzliche Analgetikagabe die Beurteilung
des lokalen Schmerzes nicht beeinflusst
4).
Der in der Studie verwendete LET Gel wird
in der Universitätsspitalapotheke (CHUV
HEL) unter sterilen Bedingungen aus einer
Mischung von Lidocain, Epinephrin und
Tetracain hergestellt und im Kühlschrank
aufbewahrt. Es wurden die maximal emp
fohlene Lidocainmenge (10mg/kg)
4) sowie
Evaluation der Wirksamkeit eines Gels
(LET) zur topischen Anästhesie bei
einfacher Wundversorgung beim Kind
C. Balice Bourgois, A. Gros Désormeaux, Ch. Vannay, M. Nydegger* et N. Lutz**
Service de Pédiatrie, *Service d’anesthésie,
**Service de Chirurgie Pédiatrique
Centre Hospitalier Universitaire Vaudois
Département Médico Chirurgical de Pédiatrie
Hôpital de l’Enfance, Lausanne, Suisse
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
Abbildung 1: EVA-Scale
Abbildung 2: POCIS-Scale (Pain Observation Scale for Young Children)
Gesicht Neutral, entspannt 0
Grimassen, Stirnrunzeln, Nasenfalten 1
Weinen Kein Weinen 0
Weinerlich, stöhnt, schreit 1
Atmung Regelmässig, ruhig 0
Unregelmässig, Einziehungen, Hecheln 1
Thorax Ruhig, entspannt 0
Gespannt, Schlottern, Zittern 1
Arme, Finger Ruhig, entspannt 0
Gespannt, Fäuste geschlossen, ungeordnete Bewegungen 1
Beine, Zehen Ruhig, entspannt 0
Gespannt, gibt Fusstritte, ruhelos 1
Verhalten Ruhig, entspannt, spielt oder schläft 0
Unruhig, ruhelos, reizbar 1
Tabelle 1: Schmerzscore
POCIS EVA
Kein Schmerz 0 –1 1–2
Schwacher Schmerz 2–3 3
Mittlerer Schmerz 4–5 4
Starker Schmerz 6–7 5–6
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die mittlere Applikationsdauer von 45 Mi
nuten 10), 11) respektiert. Die Zufriedenheit der
Spitalequipe in Bezug auf den allgemeinen
Verlauf wurde ebenfalls evaluiert. Der Fra
gebogen enthält auch eine Frage zu even
tuellen Nebenwirkungen des LET Gels. Die
statistischen Analysen wurden durch den
CEPIC (Centre d’épidémiologie clinique) in
Lausanne durchgeführt.
Resultate
Bei 166 1 bis 15 jährigen Kindern (Mittel 5,5
Jahre) wurden unter LET Gel Lokalanästhe
sie 166 Wundversorgungen durchgeführt.
Der grösste Teil (150/166, 90%) an Gesicht
und Kopfhaut, die übrigen 10% an anderen
Körperteilen (Arm, Bein, Rücken etc.). Im
Mittel wurden 3 Nähte (1–8) gesetzt. Die
mittlere Dauer der LET Gel Applikation vor
dem Nähen war 55 Minuten (30 bis 150
Minuten). Eine wirksame Anästhesie (keine
Schmerzen) wurde bei 65% der unter 5 jäh
rigen Kinder (POCIS Score < 2) und bei 92%
der über 5 jährigen (EVA Score < 3) beob
achtet (Tab.2). Im Übrigen verspürten nur
10.9% der unter 5 jährigen (POCIS > 3) und
1.3% der über 5 jährigen Kinder (EVA > 3)
mittlere/starke Schmerzen. Es ist kein sta
tistisch signifikanter Unterschied bezüglich
Anzahl Nähte zwischen den verschiedenen
Schmerzkategorien festzustellen (Kruskal
Wallis; p = 0.5) (Tab.3). Das LET Gel war bei
64% der 11 Kinder, die zusätzlich ein An
algetikum per os bekamen, wirksam (kein
Schmerz), gegenüber 78% der 155 Kinder ohne zusätzliches orales Analgetikum. Der
Unterschied ist statistisch nicht signifikant
(Fisher; p = 0.2)
(Tab.4). Der Schmerzscore
hängt nicht von der Applikationsdauer des
LET Gels ab (Kruskal Wallis; p = 0.6) (Tab.5).
Es wurde keinerlei unerwünschte Nebenwir
kung beobachtet und 97% der Wundversor
gungen verliefen gemäss der Beurteilung
des Pflegepersonals zufriedenstellend.
Diskussion
Seit über einem Jahrzehnt ist das Schmerz
management in der ärztlichen Praxis bei
Patienten jeden Alters vorrangig geworden,
auch bei invasiven Eingriffen. Mehrere Stu
dien haben schon vor 20 Jahren hervorgeho
ben, dass Kinder Opfer grundlegender Un
gleichheit in der Schmerzbehandlung sind
12 ).
Anand et al. konnten nachweisen, dass
nociceptive Reize bereits im Nervensystem
des Frühgeborenen übermittelt werden
13).
Diese Betrachtungen werden durch die
1992 in den USA
14) und 2001 in Frankreich 15)
publizierten Guidelines zur Schmerzevalua
tion und –behandlung unterstrichen. Eine in
5 pädiatrischen Notfalldiensten in den USA
durchgeführte Studie zum «state of the art»
der Schmerzbehandlung beim Kind, weist
auf eine stetige Entwicklung der Behand
lungsmethoden hin
16 ).
In der täglichen medizinischen Praxis gibt
es verschiedene Situationen, die eine Lokal
anästhesie erfordern (Wundnaht, Punktio
nen, Wundreinigung bei Verbrennungen und anderen Verletzungen, Injektionen, etc.).
Im Falle von oberflächlichen Verletzungen
wird die wundnahe Lidocaininfiltration auch
heute noch als «gold standard» der Lokal
anästhesie betrachtet
15). Leider ist die Lido
caininfiltration selbst schmerzhaft. Durch
Verwendung eines topischen Anästhetikums
(LET Gel, TAC Gel) kann auf das Spritzen
eines Anästhetikums verzichtet werden.
Das als erstes verwendete topische An
ästhetikum ist das TAC Gel; seine Wirk
samkeit wurde ausgiebig dokumentiert
3), 5) .
Schwachstelle in seiner chemischen Zu
sammensetzung ist jedoch das Kokain,
das im Wesentlichen 3 Nachteile hat: Seine
Kosten, die mögliche Toxizität und die mit
der Aufbewahrung eines Narkotikums in
einer Notfallstation zusammenhängenden
Risiken
6–8), 17) . Eine Formel ohne Kokain stellt
das LET Gel dar, das sich, mit dem TAC Gel
verglichen, bei der Behandlung einfacher
Wunden im Kindesalter als ebenso wirksam
und ausgesprochen sicher erweist
2), 9),17) .
Die Mehrzahl der Studien zur Wirksamkeit
des LET Gels wurden ausserhalb Europas
durchgeführt, da das Gel bis Ende der 90er
Jahre in Europa nicht im Handel war
4). Da
dies immer noch der Fall ist, wird es in
Spitalapotheken steril hergestellt und kühl
aubewahrt
11).
In unserer Studie wurde der Schmerz bei
einfachen Wundnähten mit LET Gel unter
Berücksichtigung eventueller Faktoren eva
luiert, die dessen Anwendung beeinflussen
konnten. Die Studienresultate bestätigen
Tabelle 2: Verteilung der Schmerzscores
POCIS (< 5 Jahre) EVA (> 5 Jahre)
Anzahl % Anzahl %
Kein Schmerz 60 65.2 68 91.9
Schwach 22 23.9 5 6.8
Mittel/Stark 10 10.9 1 1.3
Total 92 100 74 100
Tabelle 3: Vergleich Schmerz und Anzahl
Nähte
Schmerzscore Anzahl Nähte Anzahl
Mittel (SD)
Kein Schmerz 2.7 (1.5) 128
Schwach 2.9 (1.5) 27
Mittel/Stark 3.1 (1.5) 11
Total 2.8 (1.5) 166
Tabelle 4: Vergleich der Schmerzscores mit/ohne Analgetikum per os
Fisher’s exact: p = 0.2
Ohne Analgetikum Paracetamol/NSAR Total
Kein Schmerz 121 (78%) 7 (64%) 128 (77%)
Schwach 25 (16%) 2 (18%) 27 (16%)
Mittel/Stark 9 (6%) 2 (18%) 11 (7%)
Total 155 (100%) 11 (100%) 166 (100%)
Mittlere Anzahl
Applikations-
dauer (SD)
Keine Schmerzen 55.6 (19.1) 121
Schwach 50.9(9.3) 27
Mittel/Stark 56.4 (13.6) 11
Tabelle 5: Vergleich der Schmerzscores je
nach Applikationsdauer
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die Wirksamkeit des LET Gels als topisches
Anästhetikum bei der Wundversorgung
oberflächlicher Hautverletzungen beim Kin
de, sofern die Applikationsdauer respektiert
wird. Der Eindruck einer weniger gut anäs
thesierenden Wirkung beim Kind unter
5 Jahren liegt wahrscheinlich an der schwer
evaluierbaren grösseren Ängstlichkeit des
jüngeren Kindes. Unsere Studie konnte
keinen Zusammenhang zwischen Lokali
sation der Verletzung, Anzahl Nähte sowie
gleichzeitiger Gabe eines Analgetikums und
der Wirksamkeit des LET Gels feststellen.
Auch wurden keinerlei Nebenwirkungen
festgestellt, womit sich bestätigt, dass das
LET Gel nicht nur wirksam, sondern auch
sicher ist.
Zusammenfassend kann gesagt werden,
dass das LET Gel bei 79% der Kinder, die
sich auf unserer Notfallstation einstell
ten und den Einschlusskriterien der Studie
entsprachen, eine schmerzfreie Wundver
sorgung erlaubte. Es sollte überall dort zur
Verfügung stehen, wo bei Kindern Wundver
sorgungen durchgeführt werden.
Referenzen:
Siehe französischer Text
Korrespondenz:
colette.balice@eoc.ch
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Colette Balice-Bourgois , Hôpital de l’Enfance, Lausanne