Die Zahl voll gestillter Säuglinge hat erfreulicherweise laufend zugenommen. Das Prädikat «Stillfreundliche Klinik» der WHO/UNICEF konnte bisher 45 Geburtsstätten in der Schweiz verliehen werden.
24 Recommandations / Empfehlungen Vol. 14 No. 4 2003
1. Hintergrund
Die Zahl voll gestillter Säuglinge hat er-
freulicher weise laufend zugenommen
1).
Das Prädikat «Stillfreundliche Klinik» der
WHO/UNICEF konnte bisher 45 Gebur ts-
stätten in der Schweiz verliehen werden
2).
Empfehlungen für die Ernährung gesunder
Neugeborener auf Wochenbettstationen
wurden letztmals 1993 von der Ernährungs-
kommission der Schweizerischen Gesell-
schaft für Pädiatrie (SGP) publizier t
3). Zwei
Aspekte haben zur Überarbeitung der da-
maligen Empfehlungen geführ t:
•Zurückhaltung bei der Zugabe von
Flüssigkeitoder Muttermilchersatz-
präparaten kann bei gesunden
gestillten Neugeborenen in den
ersten Lebenstagen in der Regel
ohne Nachteile praktizier t werden.
Die Abweichungen von dieser
Regel sollen aber bekannt sein
und beachtet werden.
•Die Allergieprävention,insbeson-
dere der Kuhmilchproteinallergien,
hat einen hohen Stellenwer t erhalten.
Die Empfehlung der WHO aus dem
Jahre 2001
4), Säuglinge während der
ersten 6 Monate ausschliesslich zu
stillen, unterstützt die aktuellen Vor-
stellungen zur allgemeinen Vorbeu-
gung von Allergien. Die Bedeutung
von allergenreduzier ten Milchen (HA-
Milchen) in der Primärprävention von
Allergien bei Neugeborenen, welche
nicht oder nicht vollständig gestillt
werden können, ist nicht schlüssig
bekannt. Die zur zeit vorliegenden
Erkenntnisse werden bei diesen
Empfehlungen berücksichtigt.2. Definition
«Neugeborene auf Wochenbettstationen»
•Gebur t nach vollendeter 34. Woche
•Gebur tsgewicht über 2000 g
3. Stillen
Die Grundsätze der Stillförderung sind in
den Empfehlungen der WHO/UNICEF zum
er folgreichen Stillen festgelegt
5). Sie wer-
den in der Schweiz weitgehend umgesetzt.
Tag 1
Erstes Anlegen innerhalb der ersten 2–3
Stunden nach der Gebur t, dann – je nach
Wachzustand – 4- bis 6-stündlich.
Ab 2. Tag
Freies Stillen nach Bedar f, Frequenz stei-
gernd 5–8-mal pro Tag, bei Milcheinschuss
und später 8–12-mal pro Tag.
4. Supplementationsregeln
Tag 1–3
Das Angebot von Zusatzflüssigkeit und/
oder Muttermilchersatzpräparaten (z.B.
10–40 ml Dextrin-Maltose 10% [DM-Lö-
sung]) nach der Gebur t und in den ersten
Lebenstagen ist selten notwendig und soll
nicht als Routinemassnahme, sondern nur
bei medizinischer Indikation er folgen:
Kinder mit erhöhtem Risiko
für Hypoglykämie oder Dehydratation
•Frühgeborene in Wochenbett-
stationen (34. bis vollendete
37. Woche)
•Untergewichtige Kinder
(unter 10. Gewichtsper zentile)•Gebur tsgewicht
< 2500 g oder > 4500 g
Gesunde Termingeborene
(Gebur t nach vollendeter 37. Woche)
•Weinen und Unruhe trotz vorangegan-
gener wiederholter Brustmahlzeit
(Durstzeichen)
•Wenn das Weinen oder die Unruhe
des Kindes von der Mutter als Äusse-
rung von Hunger oder Durst empfun-
den werden (Sorgen um das
Nahrungsangebot für das Kind)
•Hinweise für Dehydratation
(Gewichtsverlust > 10%) oder
Hypoglykämie (Klinik, Blutzucker)
Tag 4/5
Nach Information der Eltern soll DM-Lö-
sung par tiell durch Muttermilchersatzprä-
parate ersetzt werden bei
•anhaltender Gewichtsabnahme
(Wägen bei Verdacht auf ungenügen-
de Flüssigkeitszufuhr indizier t; Tole-
ranzgrenze: Gewichtsabnahme bis
10% des Gebur tsgewichtes)
•fehlendem bzw. ver zöger tem Milch-
einschuss
5. Muttermilchersatzpräparate
Für die Ernährung von Säuglingen, die nicht
oder nur teilweise gestillt werden können,
stehen qualitativ hochwer tige industrielle
Muttermilchersatzprodukte zur Ver fügung,
mit denen der Nährstof fbedar f des Säug-
lings ausgewogen gedeckt werden kann.
Dabei ist zwischen Säuglingsanfangs-
nahrungen mit ausschliesslich Laktose als
Kohlenhydrat (Typ A) und solchen mit zu-
sätzlich anderen Kohlenhydraten zu unter-
Ernährung gesunder Neugeborener
in den ersten Lebenstagen
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scheiden (Typ B). Typ A-Milchen sind ähn-
lich dünnflüssig wie Muttermilch und eig-
nen sich daher besonders bei eventueller
Zufütterung gestillter Säuglinge und wer-
den meist nur in den ersten Lebensmo-
naten ver wendet. Eine Liste der ver füg-
baren Produkte wird periodisch erstellt und
ist im Internet einsehbar
6).
6. Zusätze
Vitamin K-Prophylaxe
Ab dem 1.1.2003 gelten neue Richtlinien.
Nach dem Motto «4 Stunden, 4 Tage, 4
Wochen» sollen wie bisher nach der Gebur t
und am 4. Lebenstag je 2 mg Konakion
MM
®per os verabreicht werden. Zudem
wird die Verabreichung einer dritten Dosis
von 2 mg per os im Alter von 4 Wochen
empfohlen. Ausnahmen sind aus der Publi-
kation zu entnehmen
7).
Vitamin D-Prophylaxe
Es gibt keine Gründe, die bestehenden
Richtlinien zu ändern
8). Allen Kindern soll
ab Ende erste Lebenswoche und im ersten
Lebensjahr 400 E Vitamin D pro Tag ver-
abreicht werden.
7. Hypoallergene Nahrung
So genannte «hypoallergene» oder «hypo-
antigene» Säuglingsnahrungen, die in der
Schweiz mit HA im Produktnamen be-
zeichnet werden, sind seit etwa 15 Jahren
auf dem Markt.
In den HA-Nahrungen wird das Ausgangs-
protein (Kuhmilch-Casein, Molkeneiweiss,
Soja, Rinderkollagen) durch Hydrolyse
teilweise gespalten. Die par tiell hydroly-
sier ten HA-Milchen sind von den extensivhydrolysier ten Präparaten zu unterschei-
den
6).
Ein erhöhtes Atopierisiko besteht bei Säug-
lingen mit mindestens einem Ver wandten
ersten Grades (Eltern, Geschwister), bei
dem eine atopische Erkrankung nach sorg-
fältiger Anamnese dokumentier t ist
9).
Muss die Muttermilch bei Kindern mit ei-
nem erhöhten Atopierisiko in der Neonatal-
periode für voraussichtlich nur wenige Tage
ersetzt werden, können sowohl par tiell
(HA-Milch) wie extensiv hydrolysier te Mil-
chen verabreicht werden.
Ist eine Ernährung mit Muttermilch nicht
möglich, so wird bei Kindern mit doku-
mentier tem Atopierisiko die Ernährung mit
einer par tiell hydrolysier ten Milch (HA-
Milch) während der ersten 4–6 Monate
empfohlen
10) 11) .
Besteht eine erhebliche familiäre Atopie-
belastung (1 Geschwister mit starker ato-
pischer Dermatitis, 2 Ver wandte 1. Grades
mit einer atopischen Erkrankung), ist der
Einsatz einer extensiv hydrolysier ten Milch
möglich, allerdings nur nach Rücksprache
mit dem Kinderar zt und nach Abklärung
des Kostenträgers.
Im Übrigen wird auf die Publikationen zur
Prävention von Nahrungsmittelallergien für
Neugeborene und Säuglinge mit einem er-
höhten Atopierisiko der ESPACI und Er-
nährungskommission ESPGHAN hinge-
wiesen
11).
Für den Nutzen von HA-Nahrungen bei
Säuglingen ohne dokumentier tes familiä-
res Atopierisiko gibt es keine schlüssigen
Belege; ein genereller Einsatz dieser Mil-
chen kann der zeit nicht empfohlen werden. Johannes Spalinger
Gregor Schubiger
Kur t Baerlocher • Ernährungskommission der Schweizerischen
Gesellschaft für Pädiatrie
(Präsident: PD Dr Michel Roulet, Lausanne)
• Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie
(Präsident: Prof. Dr. Hans U. Bucher, Zürich)
Korrespondenz:PD Dr. med. J. Spalinger
Pädiatrische Klinik
Kinderspital
6000 Luzern 16
johannes.spalinger@ksl.ch
Referenzen
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Paediatrica 2001; 12, 5: 33–35.
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der Neugeborener auf Wochenbettstationen. Empfeh-
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5) World Health Organization. Protecting, Promoting and
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neva 1989.
6) http://www
.swiss-paediatrics.or g/paediatrica/vol13/ n2/laits-ge.htm 7) Schubiger G, Laubscher B, Bänziger O. Vitamin K-
Prophylaxe bei Neugeborenen: Neue Empfehlungen.
Paediatrica 2002; 13, 6: pp. 54–55.
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Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Johannes Spalinger , Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung Universitätskinderklinik Bern / Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung, Kinderspital, Luzerner Kantonsspital, Luzern