Allgemeine Zusammenhänge
Die Bezeichnung unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMA) bezeichnet Kinder oder Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich ohne gesetzlichen Vertreter an unseren Grenzen einfinden. Die Migrationsgründe sind vielfach, haben aber immer Armut und strukturelle Instabilität als Ursache.
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Spezialnummer Migranten 2016
Allgemeine Zusammenhänge
Die Bezeichnung unbegleiteter minderjähriger
Asylsuchender (UMA) bezeichnet Kinder oder
Jugendliche mit Migrationshintergrund, die
sich ohne gesetzlichen Vertreter an unseren
Grenzen einfinden. Die Migrationsgründe sind
vielfach, haben aber immer Armut und struk-
turelle Instabilität als Ursache. Hinter diesen
Faktoren allgemeiner Verletzlichkeit finden
sich stets wiederkehrend und allgegenwärtig
die Problematik von Diskrimination und Un –
gleichheit unter den Geschlechtern, ethnische
Konflikte und Gewalt oder der Verlust eines
oder beider Elternteile. Die sich an der Grenze
einfindenden UMAs werden unter Vormund –
schaft gestellt und ohne weiteres bis zur
Volljährigkeit in der Schweiz aufgenommen.
Die Aufnahmebedingungen variieren von ei –
nem Kanton zum anderen, mit grossen Unter –
schieden bezüglich Zugang zu angemessenen
Wohnheimen, erzieherischer Unterstützung, Schulung und angepasster körperlicher und/
oder psychischer Betreuung. Unangepasste
Aufnahmestrukturen beeinträchtigen die Ent
–
wicklung und verstärken die Verletzlichkeit
Minderjähriger.
Zwei Erlasse wahren den Schutz Minderjähri –
ger in der Schweiz ; zum Er sten handelt es sich
um kantonale Jugendschutzgesetze, zweitens
um die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), die
durch die Schweiz ratifiziert wurde und folg –
lich auf Bundesebene anwendbar ist. Diese
Gesetzesartikel halten unter anderem fest,
dass Minderjährige das Recht auf eine ange –
messene Betreuung (Schutz, Pflege, Schu –
lung) haben, unabhängig von Nationalität und
administrativem Status (Art. 22 und Art. 2, 1),
und dass bei jeder hinsichtlich des Kindes
getroffenen Entscheidung, das höhere Inter –
esse des Kindes im Vordergrund stehen soll.
(Art. 3, 1).
Es liegt demzufolge in der Verantwortung des
Staates, der diese Minderjährigen aufnimmt, eine angemessene Betreuung zu organisieren
und die Durchsetzung der UN-Kinderrechts
–
konvention sicherzustellen.
Die derzeit von Kanton zu Kanton unterschied –
liche Betreuung der UMAs und die Überlas –
tung angemessener Aufnahmestrukturen, die
zur Folge haben, dass Minderjährige in Struk –
turen für Erwachsenen aufgenommen wer –
den, sind problematisch und werfen juristi –
sche und ethische Fragen auf.
Die europäische «Migrationskrise» betrifft
heute auch die in die Schweiz gelangenden
UMAs. Im Kanton Waadt hat sich ihre Zahl im
Verlauf eines Jahres (2014–2015) verdrei –
facht, gesamtschweizerisch ist die Zunahme
noch grösser (Abbildung 1). Diese rasche Zu –
nahme hat in allen Kantonen zur Überfüllung
der Unterkünfte und Überlastung der Betreu –
ungs- und Schulungsmöglichkeiten geführt,
und erfordert neue Überlegungen zur Schaf –
fung angemessener Strukturen für Minderjäh –
rige.
UMA und Gesundheit
In gesundheitlicher Hinsicht sind UMAs drei –
f ach ver w undbar. Sie sind Mig r anten, jugend –
lich und ohne Unterstützung durch die Fami –
lie, ein für die Gesundheit Jugendlicher
wichtiger Schutzfaktor. Sie kumulieren die
der Migrantenpopulation einerseits und dem
Jugendalter (psychische Gesundheit, Risiko –
verhalten) inhärenten Gesundheitsrisiken
andererseits. Die zum Thema UMA publizier –
te Literatur beschreibt Jugendliche, die einem
erhöhten Risiko für psychische Krankheiten,
vermehrten Schwangerschaftsabbrüchen
und Drogenkonsum ausgesetzt sind. Diese
Verletzlichkeit unterstreicht die Notwendig –
keit angemessener Massnahmen zugunsten
dieser Population, um die Schranken zum
Zugang zu medizinischer Betreuung abzubau –
en. Der Begriff angemessene Betreuung für
UMAs umfasst eine multidisziplinäre (Kinder-
und Allgemeinärzte, Sexualberatung, psychi –
sche Gesundheit) und transkulturelle Be –
treuung mit Sprechstunden in Gegenwart
transkultureller Übersetzer/Mediatoren, auf
vertraulicher Basis trotz vernetzter Arbeits –
weise.
Im Kanton Waadt wurde seit 2008 ein Modell
integrierter Betreuung entwickelt. In diesem
Betreuungsnetz übernehmen Pflegefachper –
sonen die Rolle des «Gate keeping» ; sie emp –
f angen und sehen alle U MAs und weisen jene,
die eine ärztliche Evaluation benötigen, an
die entsprechende Fachstelle zu. Der medi –
Eine wachsende Population?
Die Unbegleitete minderjährige
Asylsuchende heute in der Schweiz
S. Depallens 1), C. Plati 1), A-E. Ambresin 1), Lausanne
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Abbildung 1: Jährliche Ankunftszahlen von UMA in der Schweiz (SEM 2015)
3000
2500
2000 1500
1000 500 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015
235
327485
3467952’736
1) Division Interdisciplinaire de Santé des Adolescents ( DISA) , CHUV, Lausanne
1J.-C Métra
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zinische Pol, Kinder- und Jugendpsychiater/-
psychologen und Kinder-/Allgemeinärzte
umfassend, zentralisiert die Betreuung und
weist bei Bedarf an Spezialärzte weiter. Die
Betreuung erfolgt in enger Zusammenarbeit
mit den Erziehern des Wohnheimes. Ein Pro-
tokoll hat zur Verbesserung der Zusammenar –
beit zwischen den Teams von Wohnheimen
und somatischen und psychischen Betreu –
ungsstrukturen, und damit zu verbessertem
Zugang zu medizinischer Betreuung dieser
vulnerablen Population geführt.
Aktuelle Herausforderungen
UMAs betreffend
1. Festlegung der Minderjährigkeit
Die Kenntnisse der Medizin erlauben es
nicht, das Alter eines Minderjährigen genau
festzulegen. Die Fehlergrenze der verschie –
denen Methoden (Knochenalter, Zahnsta –
tus, CT-Scan des Schlüsselbeines) haben
eine Fehler g r enze von ± 2 Jahr en. Das A lter
eines UMAs wird deshalb in den Empfangs –
stellen, in Abwesenheit einer erwachsenen
Vertrauensperson, unter anderem auf
G r un d der Kohär en z der A ngab en des U M A s
fes t geleg t . Dieses Vor gehen w ir f t die Fr age
nach der Zuverlässigkeit der Angaben der
Jugendlichen auf, im Wissen, dass viele
nach einem langen und traumatisierenden
Migrationsweg an der Grenze eintreffen,
nicht zu sprechen von den im Ursprungs –
land erlebten Schrecken. Sind sie zu die –
sem Zeitpunkt in der Verfassung, ein Verhör
zu ertragen? Wie zuverlässig sind je nach
psychischem Zustand ihre Angaben? Ge –
wisse minderjähr ige UMAs werden als voll –
jährig erklärt. Solche Fehler haben drama –
tische Auswirkungen auf die weitere Inte –
gration des Jugendlichen, der nicht dieselbe
Betreuung und auch nicht dieselben Schu –
lungsmöglichkeiten hat, wie ein Jugendli –
cher, der als minderjährig erklärt wurde.
2. Betreuung in der Schweiz
(Lebensbedingungen)
Wohnheime für UMAs bieten Jugendlichen
mit Migrationshintergrund erzieherische
Unterstützung und einen wohlwollenden
Rahmen, um sie, gemeinsam mit der Kin –
der- und Erwachsenenschutzbehörde auf
ihrem Bildungsweg und bei Fragen zu ihrer
G esundheit zu b egleiten. Es ist vor dr inglich,
Jugendlichen angepasste Wohn- und Rah –
menbedingungen schaffen, ist vordringlich,
will man ihre Vulnerabilität verringern und
ihnen den notwendigen Schutz bieten. Die Tatsache, dass sich derzeit in der Schweiz
eine b e deutende A nz ahl U MA in Er wachse
–
nenstrukturen aufhält, sei es aus Überlas –
tung, sei es weil in verschiedenen Kantonen
Wohnheime für UMAs fehlen, ist besorgnis –
erregend.
3. Zugang zu Schulung
Für Jugendliche ist Bildung ein wichtiger
Gesundheitsfaktor und der Zugang zu
Schulung gehört zu den Grundrechten der
UN-Kinderrechtskonvention. In der Schweiz
stehen der zeit zahlreiche UMAs auf War te –
listen von Schulen und bleiben monatelang
unbeschäftigt, ohne Zugang zu Sprachin –
tegrationskursen, was zu Zurückbleiben in
der Schule f ühr t o der eine mögliche B er u f s –
bildung verhindert.
4. Übergang von Minder zu Volljährigkeit
Der Übergang von der Minder- zur Volljäh –
rigkeit fällt oft mit dem Ausweisungsent –
scheid zusammen. Diese jungen Menschen
befinden sich manchmal mitten in einer
Ausbildung und sehen sich von einem Tag
auf den anderen jeglicher Zukunftsperspek –
tive beraubt. Dies kann beträchtliche Fol –
gen für ihre psychische Gesundheit haben
und die Not kann so gross sein, dass ihr
Leben in Gefahr kommen kann. Es geht
um die Frage, ob die Verletzlichkeit mit
18 Jahren + 1 Tag aufhört? Die aktuellen
Kenntnisse zur Hirnentwicklung des Ju –
gendlichen sprechen für eine Hirnreifung,
die bis zum 25. Lebensjahr dauert; es ist
damit fraglich, ob die bei 18 Jahren ange –
setzte Grenze den Bedürfnissen und der
Entwicklung junger Menschen entspricht.
Ansätze für die Zukunft
Die Schaffung einer nationalen multidiszipli –
när en A r b eit sg r upp e zur B etr euung der U MA s ,
mit Vertretern aus allen Kantonen, stellt eine
Möglichkeit dar, die interkantonale Praxis zu
harmonisieren und einen Konsens zu finden,
der die grundlegenden Bedürfnissen aller in
die Schweiz kommenden UMAs berücksich –
tigt. Nur die nationale Kohäsion aller Fachper –
sonen, die UMAs betreuen, kann erreichen,
dass die damit verbundenen Herausforderun –
gen bei den politischen Entscheidungsträgern
Gehör finden.
Bildung ist ein für die Gesundheit Jugendlicher
entscheidender Schutzfaktor; ein möglicher
Weg wäre z. B., dass jungen Menschen, die in
der Schweiz eine Ausbildung begonnen ha –
ben, ermöglicht wird, diese über das Errei –
chen ihrer Volljährigkeit hinaus fortzuführen.
Während dieser Ausbildungszeit und Über-
gang von der Minder- zur Volljährigkeit würde
eine erwachsene Bezugsperson (Vormund,
Sozialarbeiter, Erzieher) den jungen Erwach –
senen begleiten, auf der Basis eines Ausbil –
dungsvertrages, mit dem Ziel, einen in der
Schweiz, in einem Drittland oder im Ur –
sprungsland realisierbaren Lebensentwurf
auszuarbeiten.
Schlussfolgerungen
Trotz Straffung der Immigrationspolitik nimmt
der Migrationsstrom nicht ab, und immer
jüngere Jugendliche oder Kinder kommen
ohne Schutz und Betreuung durch eine er –
wachsene Bezugsperson in die Schweiz.
Diese jungen Menschen bleiben oft mittel- bis
langfristig in der Schweiz und bedürfen auf
Grund ihrer grossen Verwundbarkeit einer
spezifischen Betreuung. Die Schweiz verfügt
über die legalen Grundlagen zum Schutz die –
ser Minderjährigen, doch ist die praktische
Umset zung sehr inkons t ant und ungleich. Au f
eine nationale Zusammenarbeit bei der Be –
treuung der UMAs hinzuarbeiten, stellt eine
absolute Priorität dar, will man die Situation
dieser Jugendlichen verbessern.
Referenzen
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5) Depallens S Ambresin AE. Soins aux mineurs non
accompagnés (MNA): l’expérience Lausannoise.
Rev Med Suisse. 2010: 1248–52.
Korrespondenzadresse
Dr Anne-Emmanuelle Ambresin
Médecin cheffe
Division interdisciplinaire de santé des
adolescents, DMCP Av. de Beaumont 48
CH-1011 Lausanne
anne-emmanuelle.ambresin @chuv.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstüt –
zung und keine anderen Interessenkonflikte im
Zusammenhang mit diesem Bietrag deklariert.
1J.-C Métra
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr med. Sarah Depallens , médecin associé en pédiatrie, CAN Team, DISA, DFME, CHUV, Lausanne