Die idiopathische oder immun-thrombozytopenische Purpura (ITP) ist eine Blutungskrankheit mit einer Inzidenz von 1–4:100000 Kindern pro Jahr. Es handelt sich um eine Störung der primären Hämostase mit Thrombozytopenie (Thrombozytenwert <150 x109/L) wegen stark verkürzter Lebensdauer der Thrombozyten, weil die Zellen durch das monozytäre phagozytäre System vorzeitig abgebaut werden. Die Ursachen sind weitgehend unklar und die ITP stellt sozusagen einen Sammeltopf verschiedener Ursachen und pathogenetischer Mechansimen dar. Die Heterogenität der ITP und der Mangel an klinischer Evidenz sind Gründe für die vielen Kontroversen. Die kurze und nicht vollständige Übersicht möchte Aspekte des geschichtlichen Hintergrundes, der Pathophysiologie und der Klinik beleuchten, um die klinische Beurteilung und die Entscheidungsprozesse bei Patienten mit ITP zu fördern.
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Vol. 19 No. 1 2008 Fortbildung / Formation continue
Einführung
Die idiopathische oder immun-thrombo-
zytopenische Purpura (ITP) ist eine Blu –
tungskrankheit mit einer Inzidenz von
1–4:100 000 Kindern pro Jahr. Es handelt
sich um eine Störung der primären Hämos-
tase mit Thrombozytopenie (Thrombozyten –
wert <150 x 10
9/L) wegen stark verkürzter
Lebensdauer der Thrombozyten, weil die
Zellen durch das monozytäre phagozytäre
System vorzeitig abgebaut werden. Die
Ursachen sind weitgehend unklar und die
ITP stellt sozusagen einen Sammeltopf ver-
schiedener Ursachen und pathogenetischer
Mechansimen dar. Die Heterogenität der
ITP und der Mangel an klinischer Evidenz
sind Gründe für die vielen Kontroversen.
Die kurze und nicht vollständige Übersicht
möchte Aspekte des geschichtlichen Hin -
tergrundes, der Pathophysiologie und der
Klinik beleuchten, um die klinische Beur-
teilung und die Entscheidungsprozesse bei
Patienten mit ITP zu fördern.
Geschichte
Bei der kritischen Betrachtung von wis-
senschaftlichen und klinischen Daten bei
Patienten mit ITP ist die Kenntnis der
Geschichte der «Purpura» hilfreich, denn
ihre Diagnose und Behandlung widerspie -
gelt die Zeit, die Wahrnehmung und die
Entwicklung des Verständnisses der «Pur-
pura». Der «Morbus Werlhof» basiert auf den
1735 publizierten Beobachtungen von Paul
Gottlieb Werlhof (1699–1767). Er beschrieb
ein 16-jähriges Mädchen mit Haut- und
Schleimhautblutungen, die er als «Morbus
maculosus haemorrhagicus» beschrieb
1),
zu einer Zeit also, als die primäre und die
sekundäre Gerinnung mit ihren Bestandtei -
len weitgehend unbekannt waren. Seither
wurden klinische Zustände mit Thrombo -
zytopenie oft unkritisch als «Morbus Werl -
hof» oder ITP bezeichnet und auf diese
Weise eine Krankheit mit einheitlicher
Ätiologie und Pathogenese suggeriert, mit
entsprechenden scheinbar einheitlichen therapeutischen Konsequenzen. Die Diffe
-
renzierung der «Purpura» geht auf das späte
19. Jahrhundert zurück, als eine Purpura
simplex (Hautblutungen) von einer Purpu -
ra haemorrhagica (Schleimhautblutungen)
unterschieden wurde, u. a. durch Eduard
Heinrich Henoch (1820–1910). William J.
Harrington (1923–1992) wies durch seine
Selbstversuche einen «Thrombozytopenie
induzierenden Blutfaktor» nach und lenk -
te so 1951 die differentialdiagnostischen
Überlegungen der thrombozytopenischen
Purpura auf einen immunologischen Me -
chanismus hin
2). Auch heute noch scheint
die ITP trotz verbesserten differentialdiag -
nostischen Möglichkeiten keineswegs eine
homogene Krankheit mit nur einer Ursache
zu sein, was die verschiedenen Formen der
ITP widerspiegeln (akut, chronisch, rezidivie -
rend, therapie-sensibel, therapie-refraktär
etc.). Die ITP stellt eine Ausschluss- oder
oft eine Verlegenheitsdiagnose dar, was bei
der Interpretation von Studien, zum Beispiel
Ein- und Ausschlusskriterien, berücksichtigt
werden muss.
Pathophysiologie
Bei der ITP geht man in der Regel von
einer Autoimmunkrankheit aus. Durch die
Bindung von Autoantikörpern an Epitope
der Thombozyten, zum Beispiel auf den
Fibrinogen- und von Willebrand-Rezeptoren,
werden die Thrombozyten vorzeitig aus
der Zirkulation durch Fc-Rezeptor vermit -
telte Phagozytose entfernt. Dies führt zu
einer stark verkürzten Lebensdauer der
zirkulierenden Thrombozyten und potentiell
zu Funktionsstörungen der Thrombozyten,
wobei Letzteres bei starker Thrombozyto -
penie schwierig fassbar ist. Bei der Ent -
stehung einer Thrombozytopenie müssen
die verschiedenen Ursachen und Mecha -
nismen (Störungen des Knochenmarks,
Sequestration, periphere Destruktion von
Thrombozyten) und weitere zusätzliche
Faktoren berücksichtigt werden, wie zum
Beispiel verschiedene Mechanismen des
Immunsystems, Lyse der Thrombozyten und Störungen der Apoptose. Der Phänotyp
der Thrombozytopenie und deren Schwe
-
regrad kann durch verschiedene Faktoren
beeinflusst werden: Erworbene Faktoren,
zum Beispiel virale, bakterielle oder para -
sitäre Infektionskrankheiten oder Medi -
kamente und prädisponierende Faktoren,
zum Beispiel Polymorphismen in Genen
der Immunantwort, der Apoptose und der
Hämostase, aber auch Ko-Morbidität wie
zum Beispiel Gerinnungsstörungen und
anatomische Defekte wie arteriovenöse
Malformationen.
Klinik
Die ITP im Kindesalter zeigt sich in jedem
Alter und kommt im Säuglingsalter mehr
bei Knaben als bei Mädchen vor und dann
bis ins Adoleszentenalter im Verhältnis
1:1
3). Der pädiatrische Altersgipfel liegt
zwischen 1 und 6 Jahren 4). Bei Kindern
beginnt die ITP oft abrupt und dramatisch.
Hämorrhagische Diathese mit Blutungen
an Haut und oft an Schleimhäuten werden
meistens begleitet von schwerer Thrombo -
zytopenie (Thrombozytenwerte < 20 x 10
9/
L) 4). Oft geht den Blutungssymptomen eine
virale oder bakterielle Infektionskrankheit
Tage bis wenige Wochen voraus, deren
Assoziation mit der ITP jedoch häufig un -
klar bleibt. Zum Zeitpunkt der Blutungen
sind die Kinder in gutem Allgemeinzustand
und afebril und weisen bis auf die Throm -
bozytopenie ein normales Blutbild auf.
Jede Abweichung von diesem klinischen
Erscheinungsbild und jede zusätzliche Ver-
änderung des Blutbildes muss an andere
Krankheiten denken lassen. Weitere La -
boruntersuchungen sind nur dann indiziert,
wenn Abweichungen des beschriebenen
klinischen Erscheinungsbildes oder des
Blutbildes auftreten und zwecks differenti -
aldiagnostischen Überlegungen, insbeson -
dere bei Persistenz der Thrombozytopenie
von unbehandelten oder behandelten Pa -
tienten oder bei therapierefraktärer ITP.
Dauert die Thrombozytopenie mehr als 6
Monate, spricht man von chronischer ITP,
allerdings wird diese Definition zurzeit
überdacht, da das internationale Regis -
ter zeigen konnte, dass 25% der Kinder
mit «chronischer ITP» zum Zeitpunkt 12
Monate nach der Diagnose ITP normale
Thrombozytenwerte aufwiesen, was die
Vermutung unterstützt, dass das spontane
oder therapieinduzierte Remissionspoten -
tial im Kindesalter erheblich ist
5).
Die idiopathische thrombozyto-
penische Purpura im Kindesalter:
Fakten und Fragen
Thomas Kühne, Basel
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Prävention und Behandlung
der ITP
Die Behandlung von Blutungssymptomen
ist bei der ITP im Kindesalter trotz des
oft dramatischen Krankheitsbildes selten
notwendig. Bei der Notfalltherapie gibt es
denn auch wenige Unstimmigkeiten: Hier
ist der stationäre Einsatz von Thrombozyten
und Immunglobulinen und intravenösen
Kortikosteroiden unbestritten. Die Defini-
tion der «schweren Blutung» ist hingegen
unklar: Unbestritten sind zwar intrakranielle
Blutungen, zu den schweren Blutungen kann
man jedoch auch anämisierende Blutungen
und Ereignisse, bei denen eine chirurgische
Intervention notwendig erscheint wie zum
Beispiel unstillbares Nasenbluten, dazu -
zählen
6).
Die Kontroversen in der Betreuung von
Kindern mit ITP beziehen sich auf die prä-
ventiven Massnahmen, die eine schwere
Blutung verhindern sollen. Da das indivi -
duelle Blutungsrisiko schlecht abgeschätzt
werden kann und da es weder klinische
noch Labor-Parameter gibt, die dieses Risi -
ko präzise vorhersagen können, erstrecken
sich die Massnahmen vom Beobachten
des Patienten ohne medikamentöse The -
rapie bis zu Behandlungen mit Kortikos -
teroiden, intravenösen Immunglobulinen
und anderen Medikamenten
7). Obwohl sich
die Datenlage verbessert hat und gezeigt
werden konnte, dass das Risiko einer
intrakraniellen Blutung bei Diagnosestel -
lung und während den ersten 6 Monaten danach geringer als 0.5% ist, können die
Ängste von Medizinalpersonen, Patienten
und ihren Angehörigen so gross sein, dass
trotzdem eine medikamentöse Intervention
zwecks schnellem Thrombozytenanstieg
gewünscht wird. Es gibt jedoch noch keine
Studie, die zeigen konnte, dass ein schnel
-
ler Thrombozytenanstieg von klinischem
Wert ist. Schwieriger ist die Situation bei
persistierendem tiefem Thrombozytenwert
(< 20 x 10
9/L) und bei Patienten, die auf die
Standardmedikamente nicht ansprechen.
Bei diesen Patienten handelt es sich aber
um eine sehr kleine Gruppe mit sehr spär-
lichen klinischen Daten, so dass therapeu -
tische Entscheide nur individuell getroffen
werden können.
Leider sind der Thrombozytenwert und die
Geschwindigkeit seines Anstieges nach
einer Intervention die bisher untersuchten
Endpunkte bei prospektiven und retro -
spektiven medikamentösen Interventions -
studien
8), 9) . Das eigentliche Therapieziel,
Verhinderung von Blutungen, ein Leben
ohne Angst, d. h. eine gute Lebensqualität
des Patienten und seiner Angehörigen,
möglichst wenig Nebenwirkungen der ein -
gesetzten Medikamente und ökonomisch
verträgliche Therapieoptionen, sind bisher
kaum untersucht worden. Ob ein Blutungs -
score hingegen ein adäquates Therapieziel
darstellt, ist bisher ebenso wenig klar,
wie deren Entwicklung als «Bedside Test».
Einerseits ist die Anwendung von Blutungs -
scores nicht trivial (Beispiel in Tabelle 1)
und in der Studiensituation sowie im Alltag
schwierig durchzuführen, andererseits sind
die bisherigen Scores in der Regel von Pati -
enten mit Blutungskrankheiten der sekun -
dären Hämostase abgeleitet worden und
bei Patienten mit ITP bisher wenig validiert
worden. Ähnliches gilt für die Erfassung
der Lebensqualität. Aus diesem Grunde ist
es wohl auch in der nahen Zukunft bei der
Erforschung von neuen Medikamenten,
zum Beispiel der Thrombopoietin-Analoga
kaum möglich, andere Parameter als den
Thrombozytenwert als Therapieziel zu de -
finieren.
Schlussfolgerungen
Die ITP ist eine Ausschlussdiagnose mit
verschiedenen Ursachen und die Throm -
bozytopenie ist Folge verschiedener pa -
thogenetischer Mechanismen. Der Throm -
bozytenwert korreliert bei der ITP schlecht
mit dem Blutungsrisiko, es ist deshalb inad -
äquat, einen untersten sicheren Thrombo -
zytenwert zu definieren. Wenn die Diagnose
ITP als die wahrscheinlichste erscheint,
darf auf Grund der sich mehrenden Evidenz
ein abwartendes Verhalten ohne medi -
kamentöse Behandlung gewählt werden.
Bestehen Zweifel an der Diagnose oder
werden im klinischen Status und/oder im
Labor Abweichungen festgestellt, sind wei -
terführende diagnostische Massnahmen
notwendig und eventuell die Verabreichung
von Standardmedikamenten (intravenö-
se Immunglobuline oder Kortikosteroide),
auch aus differentialdiagnostischen Ab -
wägungen. Die klinische Forschung muss
den Thrombozytenwert als isoliertes The -
rapieziel in Frage stellen und alternative
Endpunkte untersuchen und validieren.
Die Seltenheit der ITP setzt eine effizien -
te internationale Zusammenarbeit voraus,
wofür sich die «Intercontinental Childhood
ITP Study Group» seit 1997 bemüht (www.
unibas.ch/itpbasel ).
Korrespondenzadresse:
PD Dr. med. Thomas Kühne
Abteilung Onkologie/Hämatologie
Universitätskinderspital beider Basel
Postfach
Römergasse 8
4005 Basel
Tel. 061 685 65 65
Fax 061 685 65 66
thomas.kuehne@ukbb.ch
Tabelle 1: Beispiel eines Blutungsscores
(nach Buchanan GR und Adix L. J Pediatr 2002; 141: 683—688)
Grad Blutung Beschreibung
0 keine definitiv keine neuen Blutungen
1 gering wenig Petechien (≤100 total) und/oder > 5 grosse Hämatome
(≤ 3 cm im Durchmesser); keine Schleimhautblutung
2 mild viele Petechien (>100 total) und/oder > 5 grosse Hämatome
(> 3 cm im Durchmesser); keine Schleimhautblutung
3 mittelgradig Schleimhautblutung (Nasenbluten, Zahnfleisch-Blutung,
oropharyngeale Blutungsherde, Menorrhagie, gastrointestinale
Blutung), die keiner unmittelbaren medizinischen Untersuchung
oder Intervention bedarf
4 schwer Schleimhautblutung oder vermutete innere Blutung (Gehirn, Lunge,
Muskel, Gelenk), die eine unmittelbare medizinische Untersuchung
oder Intervention benötigt
5 lebensbedrohlich Dokumentierte Hirnblutung oder lebensbedrohliche oder fatale
oder fatal Blutung an anderer Stelle
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Thomas Kühne