Grundlagen und Instrumente «heb! – hinschauen, einschätzen und begleiten» des Kanton St. Gallen
Dienstagmittag, 12.30 Uhr, die Kinderschutzgruppe des Ostschweizer Kinderspitals (KSG-OKS) ist komplett versammelt. Neben der 7-köpfigen Kinderschutzgruppe ist das falleinbringende Pflege- und Ärzteteam des Kindes anwesend. Heute geht es um Luca, 14 Monate alt, welcher gemäss den Schilderungen seiner Eltern zuhause über eine Türschwelle gestolpert und gestürzt sei. Aufgrund von Schmerzen, einer Schwellung und Schonhaltung am rechten Handgelenk wurde Luca im OKS Notfall vorgestellt. Die Beschreibung des Unfallhergangs der Eltern verglichen mit dem vorliegenden Befund erscheint dem Behandlungsteam wenig plausibel. Es wurde auch Hämatome an der Schulter und am Rücken festgestellt. Auch von Seiten der Pflege gibt es Hinweis in der Interaktion der Eltern, die irritieren. Das behandelnde Team meldet eine Besprechung in der Kinderschutzgruppe des Ostschweizer Kinderspitals an und möchte eine Einschätzung der Situation und wissen wie das weitere Vorgehen im Umgang mit den Eltern bei einer nicht akzidentellen Fraktur aussehen könnte.
Für diese und ähnliche Fragestellungen orientiert sich die KSG-OKS und das Kinderschutzzentrum (KSZ), eine Abteilungsgruppe des OKS, seit 2024 verbindlich an heb! – Grundlagen und Instrumente des Kantons St. Gallen (www.heb.sg.ch). heb! steht für «hinschauen, einschätzen, begleiten und unterstützt Fachpersonen, welche im Kontakt mit Kindern, Jugendlichen und / oder Erziehungsberechtigten stehen, in der Früherkennung von ungünstigen Entwicklungen und Kindeswohlgefährdung. Mit niederschwelliger und insbesondere rechtzeitiger fachlicher Unterstützung sollen Eltern in ihren Erziehungs-, Betreuungs- und Schutzaufgaben gestärkt werden. Die einfache und übersichtliche Handhabung von heb! ermöglicht eine schnelle multiprofessionelle Einschätzung von Risikosituationen und bietet damit eine geeignete fachliche Grundlage für die Beratungen.
Das KSZ arbeitet in der Beratung und Weiterbildung und Prävention mit heb! und macht sehr gute Erfahrungen damit. Das KSZ ist die offizielle Opferhilfestelle für Kinder und Jugendliche der Kantone Appenzell Ausserhoden, Appenzell Innerhoden und des Kantons St. Gallen sowie Fachstelle Kindesschutz im Kanton St. Gallen. Auch die beiden interdisziplinären Fallberatungen Kindesschutz des Kantons St. Gallen, in anderen Kantonen Kinderschutzgruppe genannt, arbeiten durchgehend und mit sehr gutem Erfolg nach heb!
Bestechend an heb! ist, dass sowohl Einzelpersonen wie mehrere Fachpersonen in Anwendung der heb! –Einschätzungshilfe sowie der Risiko- und Schutzfaktoren gut strukturiert die wichtigsten Informationen für eine Risikoeinschätzung zusammentragen können. In der Folge kann unter Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips und den einfach anzuwendenden Instrumenten eine Risikoeinschätzung und mit Hilfe des Entscheidungsbaums eine Handlungsplanung vorgenommen werden.
Entstehung und Einführung von heb!
heb! entstand in enger Zusammenarbeit mit der Kinderschutz-Konferenz, dem strategischen Kinderschutzorgan des Kantons St. Gallen, und der Fachkonferenz Frühe Förderung sowie in enger Zusammenarbeit der Organisationen, Verbände und Departemente, die in diesen Fachkonferenzen vertreten sind. Wesentliche Beiträge kamen zudem von Prof. Dr. Andreas Jud und Prof. Dr. Ute Ziegenhain, Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikum Ulm. Die enge Zusammenarbeit von Kanton und Praxisorganisationen bei der Entwicklung von heb! ermöglicht in der Praxis eine Zusammenarbeit, die auf einem einheitlichen Verständnis von Kindesschutz, Prozessen und Abläufen basiert.
Einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung, Verbreitung und Anwendung von heb! dienen die eintägigen, unentgeltlichen Weiterbildungen zur heb! – Einführung für Fachpersonen des Kantons St. Gallen in enger Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzzentrum. Pro Jahr werden je zwei ganztägige Schulungen zur frühen und zur mittleren Kindheit und Jugendalter angeboten. Anhand eines entsprechenden Situationsbeispiels werden die heb! Unterlagen in interdisziplinär gemischten Gruppen angewendet und eingeübt.
Viel mehr als ein Leitfaden
Über www.heb.sg.ch findet sich die Übersicht über die einzelnen heb! Bausteine gemäss Abbildung 1 im Sinne einer Einstiegs-Maske. Sämtliche Unterlagen sind frei zugänglich und können als Gesamtpaket oder Einzeldokumente heruntergeladen werden.

Der orange Leitfaden Kindesschutz enthält einerseits einen Grundlagenteil mit Grundsätzen im Kindesschutz, Informationen zu Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, einer Beschreibung der Gewaltformen, einen Abschnitt, was unter «ungünstiger Entwicklung» zu verstehen ist, Handlungsebenen im Kindesschutz, rechtliche Grundlagen sowie Informationen zum Datenschutz. Die übergeordneten, praktischen Hinweise gehen auf die Bedeutung der Zusammenarbeit und Vernetzung unter Fachpersonen und der Bedeutung der Beteiligung der Eltern, Kinder und Jugendlichen ein. Die anschliessenden Kapitel beschreiben ein strukturiertes Vorgehen in fünf Phasen zur Früherkennung von ungünstigen Entwicklungen und Kindeswohlgefährdung. Die blaue Einschätzungshilfe ist eine Zusammenfassung des orangen Leitfadens und leitet Fachleute bei einer Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung Schritt für Schritt an. Die Einschätzungshilfe ist als Version zum handschriftlichen oder digitalen Ausfüllen verfügbar. Die Zusammenstellungen zu Schutz- und Risikofaktoren helfen, Hinweise für Belastungen und Ressourcen sowie wissenschaftlich belegte Faktoren auf den Ebenen Kind, familiäres Umfeld, erweitertes Umfeld, Eltern-Kind-Interaktion und Eltern in den Blick zu nehmen. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität von Säuglingen und Kleinkindern enthält heb! weiter Grundlagen zur Frühen Kindheit, die für deren Entwicklungsbedürfnisse, Schutz- und Risikofaktoren sensibilisieren. Ergänzend zu den Dokumenten findet man auf der rechten Seite der heb! Maske Links für die Suchmaschine «find help», zu den heb! Schulungen, dem Portal «sichergsund.ch» und dem Handbuch «Kinder inmitten von Partnerschaftsgewalt».
Fünf Phasen eines strukturierten Vorgehens
Viel häufiger als mit eindeutigen Notfallsituationen sind Fachpersonen mit unklaren und schwierig einzuschätzenden Situationen und Unsicherheiten im weiteren Vorgehen konfrontiert. Obwohl es typische Risikokonstellationen gibt, ist jede Ausgangslage einzigartig und bedingt deshalb eine sorgfältige Auslegung der Gesamtsituation, einer Einschätzung und entsprechender weiterer Schritte. Hilfreich ist ein strukturiertes Vorgehen, das die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum stellt.

Phase 1: Anzeichen erkennen – es gibt kein zu früh, sich Hilfe zu holen
Der erste Schritt besteht darin, mögliche Anzeichen für eine ungünstige Entwicklung oder Kindeswohlgefährdung wahrzunehmen und ernst zu nehmen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. In dieser Phase erfolgt eine erste Grobeinschätzung, ob eine weitere Auslegung zur Gesamtsituation oder allenfalls Sofortmassnahmen nötig sind.
Besonders grosse Bedeutung misst heb! der ersten der fünf Phasen «Anzeichen erkennen» bei. Dies aufgrund der Erfahrung insbesondere des KSZ, dass sowohl Eltern, wie Angehörige und Fachpersonen oft sehr früh intuitiv merken, dass etwas mit einem Kind oder Jugendlichen nicht stimmt. Zu oft wird diesem «Bauchgefühl» keine Beachtung geschenkt, nicht vertraut, es wird verdrängt oder es besteht Unsicherheit, wie es zu verstehen oder damit umgegangen werden soll. Die Folge kann sein, dass nicht hingeschaut wird und ein Kind, dessen Entwicklung gefährdet oder das von Gewalt bedroht oder betroffen ist oder sein könnte nicht erkannt wird und keine Unterstützung bekommt.
heb! legt darum grossen Wert darauf, dass Irritationen, respektive Störgefühle wahr- und ernstgenommen werden. Die Einschätzungskreise gemäss Abbildung 3 helfen diese Wahrnehmungen einzuordnen. Es wird empfohlen, wiederkehrende oder anhaltende Gefühle, dass mit einem Kind etwas nicht stimmen könnte, auch ohne konkrete Anzeichen als Anlass zu nehmen, sich kollegial mit einer anderen Fachperson auszutauschen. Gibt es dann zu einer Irritation gute Gründe oder Erklärungen, kann von weiteren Schritten abgesehen werden. Ab einer vagen Vermutung, das heisst, wenn zu einer Irritation ohne Erklärungen auch noch ein beunruhigendes Gefühl dazu kommt, empfiehlt heb! gemäss Abbildung 2 in die Phase 2 über zu gehen. Neben dem Ernstnehmen des Baugefühls, einer Einordnung mit den Einschätzungskreisen und dem kollegialen Austausch, dient auch die Übersicht im Leitfaden Kindesschutz zu «möglichen Anzeichen beim Kind» (Kapitel 5.1.2) dazu, eine mögliche Gefährdung früh zu erkennen. Die Übersicht bietet eine Checkliste zur körperlichen und kognitiven Erscheinung und Verhaltensauffälligkeit des Kindes an. Sowohl das KSZ wie auch die Fallberatungen Kindesschutz weisen in ihren Angeboten darauf hin, dass es schon in dieser frühen Phase wichtig ist, sich Unterstützung durch spezialisierte Fachpersonen zu holen. Es gibt kein ‘zu früh’, sich Hilfe zu holen.

Bezugnehmend auf das Beispiel von Luca kann es bedeuten, dass die Pflegefachperson auf der Notfallstation bei der Anamnese den Eindruck bekommt, dass in der Interaktion zwischen den Kindseltern etwas irritierend ist, sich dies im Moment aber nicht weiter einordnen lässt. Dass der Kindsvater bei der Schilderung des Unfallhergangs der Kindsmutter immer wieder ins Wort fällt, löst bei ihr ein ungutes Gefühl aus. Die Pflegefachperson hat die vage Vermutung, dass der Kindsvater allenfalls nicht wünscht, dass eine detaillierte Schilderung des Unfallvorgangs aufgenommen wird. Sie teilt ihre vage Vermutung bei der Übergabe an die behandelnde Ärztin kurz unter vier Augen mit. Nach der Untersuchung des Kindes geht die Ärztin auf die Pflegefachperson zu und äussert ebenfalls ihr ungutes Gefühl. Die Interaktion zwischen den Kindeseltern hat sie ebenfalls irritiert. Insbesondere die forsche Sprache zwischen Kindsvater und dem weinenden Kind habe sie als wenig einfühlsam erlebt. Für sie stimme zudem der rudimentär geschilderte Unfallhergang nicht mit den festgestellten Verletzungen überein. Sie könne eine Kindesmisshandlung nicht ausschliessen und werde mit der internen Kinderschutzgruppe Kontakt aufnehmen. Das Kind wird zur Behandlung und Beobachtung stationär aufgenommen und weiterführende Untersuchungen, wie ergänzende Röntgenaufnahmen, werden angeordnet.
So hilft eine Kultur des Ernstnehmens von Irritationen und Störgefühlen, die Nutzung der Einschätzungskreise und eine enge Zusammenarbeit von Pflege, Medizin und anderen Fachpersonen, eine mögliche Kindesmisshandlung früh zu erkennen.
Phase 2 «Gesamtsituation erfassen»
Eine sorgfältige Auslegeordnung zur Lebenslage des Kindes ist vorzunehmen, bevor eine Gefährdung in Phase 3 beurteilt und das weitere Vorgehen geplant und umgesetzt wird. Dazu gehört eine Auslegeordnung zu Risiko- und Schutzfaktoren beim Kind und in seinem unmittelbaren Umfeld. Oft müssen wenige Informationen für eine erste Einschätzung ausreichen. So auch in der Situation von Luca. Um eine möglichst hohe Transparenz gegenüber den Eltern gewährleisten zu können, wurden sie inzwischen darüber informiert, dass die Situation ihres Kindes in der Kinderschutzgruppen angeschaut werde.
Bei der stationären Aufnahme von Luca meldet die Mutter an, dass sie gerne die Nacht bei ihrem Kind verbringen möchte. Dies bietet die Möglichkeit, die Mutter-Kind Interaktion zu beobachten sowie die Kompetenzen der Mutter einzuschätzen. Das Behandlungsteam vom Notfall hält seine Beobachtungen, insbesondere auch die festgestellten Hämatome an der Schulter und am Rücken in der Dokumentation fest. Bei der Übergabe an das stationäre Behandlungsteam weist man auf deren Beobachtung hin und dass es eine Besprechung der Situation in der Kinderschutzgruppen geben werde. Das OKS arbeitet mit einem Instrument, bei dem die Kompetenzen der Bezugsperson routinemässig eingeschätzt werden. Es bildet ab, wie gut die zentrale Bezugsperson in der Lage ist, die notwendigen Handlungen für das erkrankte Kind zu übernehmen und gibt damit Hinweise auf den Anleitungsbedarf. Zur Vorbereitung des Anamnesegesprächs, das in der Regel in Zusammenarbeit von Medizin und Pflege erfolgt, hat sich bewährt, sich mit den Risiko- und Schutzfaktoren gemäss heb! auseinanderzusetzen. Zusammen mit den Beobachtungen zur Interaktion der Kindeseltern mit Luca gibt dies wichtige Anhaltspunkte, welche Pflege und Medizin an die Fallbesprechung der Kinderschutzgruppe mitbringen. Nach Möglichkeit versucht sich die Pflege mit der heb! Einschätzungshilfe auf die Kinderschutzgruppensitzung vorzubereiten, was zu einem erheblichen Qualitätsgewinn und Effizienz der Besprechung beiträgt. Die Einschätzungshilfe wird an der Fallbesprechung mit den Beobachtungen anderer Disziplinen ergänzt. Das Pflegeteam wird angehalten, die Einschätzungshilfe auszufüllen, aber noch keine Einschätzung vorzunehmen.
Phase 3 – Risiko einschätzen
Die Einschätzung des Risikos für eine ungünstige Entwicklung bzw. Kindeswohlgefährdung ist eine Bewertung der in Phase 2 ausgelegten Gesamtsituation. Ab diesem Zeitpunkt kommt die KSG-OKS zum Einsatz. Sie beantwortet folgende Fragen gemäss heb! – Leitfaden:
- Einschätzung des Risikos
Wie hoch schätzen Sie das Risiko für eine ungünstige Entwicklung bzw. Kindeswohlgefährdung unter Berücksichtigung von Schutz- und Risikofaktoren für das Kind ein auf einer Skala von 1 «sehr niedrig» bis 5 «sehr hoch»? - Einschätzung der Sicherheit
Wie sicher fühlen Sie sich in der Einschätzung, ob eine ungünstige Entwicklung bzw. Kindeswohlgefährdung vorliegt auf einer Skala von 1 «sehr sicher» bis 5 «sehr unsicher»?
Die Falleinbringenden sind aufgefordert, die beiden Fragen für sich ebenfalls zu beantworten, ohne sich aber in der folgenden Runde der Kindeschutzgruppe dazu zu äussern. Jedes Kinderschutzgruppenmitglied teilt nach dem Vorstellen des Falles durch die Falleinbringenden und den erfolgten Klärungsfragen seine beiden Werte zur Einschätzung in einer ersten Runde mit – vorerst ohne Begründung. Die Sitzungsleitung hält die Ergebnisse fest. In einer zweiten Runde werden die Einschätzungen durch die Mitglieder einzeln begründet, indem sie sich zur Dringlichkeit/Akutizität, den wichtigsten Schutz- und Risikofaktoren und einer Minimal- und Maximalhypothese äussern. Die verzögerte Begründung der Risiko- und Sicherheitseinschätzung soll verhindern, dass die Kinderschutzgruppenmitglieder sich zu schnell gegenseitig (unbewusst) beeinflussen. Erst jetzt beurteilt die Sitzungsleitung den Durchschnitt der genannten Risiken und der Sicherheit der Aussagen. Gibt es grosse Abweichungen in der Einschätzung, bedingt dies eine Zwischenrunde, in der die Argumente für die jeweilige Einschätzung diskutiert und allenfalls die Einschätzung korrigiert wird.
Im Fall von Luca bewegte sich die durchschnittliche Einschätzung des Risikos bei 3.5 und die Einschätzung der Sicherheit bei 3. Diese Werte werden von der Sitzungsleitung in die Matrix gemäss Abbildung 4 «Darstellung zur Risikoeinschätzung» übertragen und der Schnittpunkt der beiden Werte ermittelt.

Für Luca ergib sich eine Risikoeinschätzung im orangen Feld «C». Die Kinderschutzgruppe spricht jetzt von einem orangen Fall. Das bedeutet auch, dass im Entscheidungsbaum gemäss Abbildung 5 bei der Farbe Orange eingestiegen wird.
Bei Luca zeigten sich die familiären Umstände mit verschiedenen Risikofaktoren als entscheidend für das erhöhte Risiko. Dazu gehörte beispielsweise, dass ein Elternteil psychisch sehr belastet war und aus diesem Grund keine genügend sichere Kinderbetreuung für Luca und dessen beiden Geschwister, drei und vier Jahre alt, gewährleistet werden konnte. Weiter war die Familie aufgrund eines Lohnausfalls in finanzieller Not, was regelmässig zu Spannungen zwischen den Eltern führte. Für die Familie stand ausserdem nur bedingt ein entlastendes Umfeld zur Verfügung. Als Schutzfaktoren zählten unter anderem ein starker und gesunder Elternteil, einzelne wichtige und stabile Bezugspersonen für die Geschwister von Luca, eine freiwillige Haushaltshilfe und die Möglichkeit, eine Kita zu nutzen. Dass sich die Eltern nach einem Erstgespräch mit dem Behandlungsteam kooperativ und offen für Veränderungsmassnahmen zeigten, erwies sich als weiterer wichtiger Schutzfaktor.
Die Minimal- und Maximalhypothese reichten von «es handelt sich um einen einmaligen, klärbaren Vorfall, Eltern lassen sich unterstützen und die Kinder sind entsprechend geschützt» bis hin zu «mehrere Kinder in der Familie sind von Gewalt betroffen, der gesunde Elternteil ist überlastet und steht vor dem Kollaps, das familiäre Netz steht kurz davor auseinanderzubrechen».
Phase 4 – Vorgehen planen
Die Risikoeinschätzung zum Kindeswohl (Phase 3) bildet die Grundlage für Überlegungen dazu, wie die Gefährdung gelindert oder behoben bzw. wie die Situation verbessert werden kann. Weiter, worin die Veränderungsziele bestehen und mit welchen Mitteln eine Veränderung herbeigeführt oder unterstützt werden kann. In Phase 4 wird das Vorgehen geplant, d. h. Veränderungsziele werden formuliert und Handlungsmöglichkeiten abgewogen. Insbesondere für Fachpersonen, die im Kindesschutz weniger erfahren sind, stellt der Entscheidungsbaum eine wichtige Übersicht dar, die die im Rahmen des eigenen Berufsfeldes bestehenden Vorgehensweisen aufzeigt und welche nicht .

Im nächsten Schritt werden von den Kinderschutzgruppenmitgliedern kurz-, mittel- und langfristige Veränderungsziele erarbeitet und diskutiert sowie Empfehlungen zur Dringlichkeit/Akutizität und zu weiteren Massnahmen abgewogen. Ein Konsens wird angestrebt. Für diese Schritte erweist sich der Entscheidungsbaum mit den enthaltenen Fragen und Optionen als wichtiger Orientierungsrahmen. Bis hier sind die Falleinbringenden aufgefordert, zuzuhören und sich nicht aktiv an der Diskussion zu beteiligen. Erst dann wird unter Einbezug aller Anwesenden ein definitiver Handlungsplan erstellt. Nun besteht auch Raum zur Klärung von Fragen oder Irritationen durch die Falleinbringenden. Anschliessend werden Verantwortlichkeiten auf Seiten der Falleinbringenden und eine Ansprechperson in der Kinderschutzgruppen definiert.
Phase 5: Handeln und überprüfen
Dem effektiven Handeln im Sinn der Umsetzung von Entscheiden geht, wie in den vorgängigen Phasen 1 bis 4 beschrieben, ein Wahrnehmen von Anzeichen, eine Auslegeordnung zur Gesamtsituation, eine Einschätzung des Risikos für eine ungünstige Entwicklung bzw. Kindeswohlgefährdung und das Abwägen von Handlungsmöglichkeiten voraus. Der nun zu erstellende Handlungsplan beinhaltet: wer macht was, mit wem und welcher Zielsetzung sowie in welcher Zeit? Die Wirkung und der Grad der Zielerreichung werden überprüft und das Vorgehen reflektiert.
In Luca’s Fall wurde entschieden, wer von der Kinderschutzgruppe die Kindseltern über die Sitzung und die Einschätzung sowie das weitere Vorgehen informiert. Die Haltung gegenüber den Eltern sollte wohlwollend und unterstützend sein. Es wurde erwartet, dass verbindlich beide Eltern an diesem Gespräch teilnehmen. Den Eltern sollen die Überlegungen der Kinderschutzgruppe soweit wie möglich transparent gemacht werden. An einem ersten Gespräch mit den Eltern ist neben der Oberärztin des Behandlungsteams eine weitere Person der Kinderschutzgruppe anwesend. Es werden die Ergebnisse aus der Kinderschutzgruppensitzung, verbindliche Massnahmen und ein nächster Beratungstermin festgelegt. In diesem Fall wurde für das Folgegespräch das KSZ beigezogen mit dem Ziel, die komplexe psychosoziale Situation der Familie auszulegen, Unterstützungsformen auszuarbeiten und Massnahmen zur Überprüfung zu vereinbaren. An der nächsten Kinderschutzgruppensitzung wird die Kinderschutzgruppe über den Verlauf des Beratungsgespräches informiert, sodass allfällige weitere Schritte geprüft werden könnten.
Mit allen Anwesenden wird abschliessend geklärt, an wen die Protokolle der Fallbesprechung gehen und wie die Ablage der Protokolle geregelt ist; üblicherweise sind sie kein Bestandteil der Krankengeschichte. Es folgt ein Abschluss mit Feedback der Falleinbringenden an die Kinderschutzgruppen. Nach Verabschiedung der Falleinbringenden nimmt sich die Kinderschutzgruppen noch Zeit für eine Reflexion und einen Ausblick.
Abschliessend ist zu betonen, dass heb! insbesondere auch dabei unterstützen soll, ungünstige Entwicklungen ohne konkrete Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung früh in den Blick zu nehmen und auf Belastungen beim Kind, bei Eltern und Bezugspersonen oder im Umfeld proaktiv zu reagieren. Dies bedeutet, dass auch im Segment der «gelben Situationen» viel Potential besteht, bei vorhandenen Belastungen und Risikofaktoren hinzusehen, Familien früh und wertschätzend Zugang zu niederschwelliger und adäquater Information, Begleitung und Unterstützung zu verschaffen.
Die einheitliche Anwendung von heb! hat sich in den verschiedenen Bereichen bewährt.
Weitere Informationen
Autor:innen
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dipl. Sozialarbeiter FH André Baeriswyl-GruberKinderschutzzentrum, Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen
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diplomierte Pflegefachfrau FH Diana KochOstschweizer Kinderspital, St. Gallen
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dipl. Sozialarbeiter FH Benno MeierKinderschutzzentrum, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
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dipl. Sozialarbeiterin FH Barbara SantelerKinderschutzzentrum, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
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Dr. med. Tamara Guidi MargarisChefärztin Allgemeine Pädiatrie, Stv. Chefärztin Kinder- und Jugendmedizin, Leiterin Kinderschutzgruppe, St. Gallen