Zusammenfassung
Der Impfstoff gegen Varizellen existiert und ist in der Schweiz verfügbar. Er hat eine nachgewiesene Immunogenität und Schutzwirkung. Seine Reaktogenität ist gering und kein Hindernis für einen mehr als bisher verbreiteten Gebrauch (selektiver Einsatz, besonders bei immungeschwächten Kindern).
22 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
Zusammenfassung
Der Impfstof f gegen Varizellen existier t und
ist in der Schweiz ver fügbar. Er hat eine
nachgewiesene Immunogenität und Schutz-
wirkung. Seine Reaktogenität ist gering und
kein Hindernis für einen mehr als bisher
verbreiteten Gebrauch (selektiver Einsatz,
besonders bei immungeschwächten Kin-
dern).
Die generelle Impfung des Kleinkindes
(nach dem 1. Gebur tstag) wird in verschie-
denen Ländern empfohlen, so etwa in den
USA. Allerdings bestehen mehrere Unge-
wissheiten (Dauer des Impfschutzes bei
nicht mehr bestehender Zirkulation des
Wildvirus; Notwendigkeit einer sehr hohen
Deckungsrate (> 90%), um die Zirkulation
des Wildvirus zu unterbinden; initiale para-
doxe Wirkung auf die Inzidenz des Herpes
zoster (Gür telrose) mit Verursachung einer
grösseren, lang andauernden Epidemie bei
nicht geimpften Personen).
Es ist berechtigt, einer Varizellenerkran-
kung beim Er wachsenen im Allgemeinen –
und bei Schwangeren im Speziellen – vor-
beugen zu wollen. Gründe hier für sind der
höhere Schweregrad in dieser Altersgrup-
pe und die oft schweren fötalen oder neo-
natalen Komplikationen ohne ver fügbare
adäquate Behandlung.
Die Prävention der Varizellen des Er wach-
senen kann durch eine generelle Impfung
der Präadoleszenten erreicht werden (10
bis 12 Jahre). Die Wahl dieser Altersgruppe
basier t auf den Tatsachen, dass eine ein-
zigeDosis vor dem 13. Gebur tstag not-
wendig ist und in der Schweiz die Anzahlseronegativer Personen minimal und ab
dem Alter von 10 Jahren konstant ist.
Obwohl es sich um eine generelle Impfung
des Präadoleszenten handelt, ist es not-
wendig, die Personen zu identifizieren, wel-
che nach dem Alter von 10 Jahren zu den
4% Seronegativen in der Bevölkerung ge-
hören. Damit kann die ernorme Vergeu-
dung an Zeit und Mitteln verhinder t wer-
den, welche eine systematische Impfung
aller Präadoleszenten in der Schweiz dar-
stellen würde (80 000 Personen pro Jahr).
Drei Methoden zur Identifikation der Impf-
kandidaten werden er wogen: «alleinige
Serologie» (und Impfung der seronegati-
ven Personen), «alleinige Anamnese» (und
Impfung der Personen ohne gesicher te
Varizellenanamnese), «Anamnese und Se-
rologie bei Personen ohne gesicher te
Varizellenanamnese» (und Impfung der
seronegativen Personen). Diese drei Vor-
gehensweisen unterscheiden sich in ihrer
Anwendungseinfachheit und in ihrer Ge-
nauigkeit in der Identifikation der Impfkan-
didaten.
Die Wahl der für die Schweiz adäquatesten
Methode ist noch nicht er folgt. Die finan-
ziellen Implikationen jeder Variante werden
zur zeit untersucht.
Soll in der Schweiz eine generelle Varizel-
lenimpfung eingeführ t werden? Falls ja,
welches wäre die Alterszielgruppe? Die-
se Fragen sind berechtigt, wenn man be-
denkt, dass die Varizellenimpfung seit über
20 Jahren existier t, dass der Impfstof f in
der Schweiz seit 1985 ver fügbar ist und
dass seine Wirksamkeit er wiesen ist. Der Impfstoff und seine Qualitäten
Der Varizellen Impfstof f wurde in den 70er
Jahren vom japanischen Biologen M. Ta-
kahashi entwickelt. Der heute in der
Schweiz ver fügbare Impfstof f wie auch der-
jenige welcher in den USA eingesetzt wird,
sind praktisch mit der von M. Takahashierst-
mals entwickelten Vakzine identisch. Alle
drei enthalten eine OKA genannte atte-
nuier te Lebendvakzine (nach dem Namen
des Jungen, bei welchem ursprünglich der
Virus isolier t wurde). Von Bedeutung ist,
dass diese Vakzine anfangs speziell für im-
mundefiziente Patienten entwickelt wurde,
hauptsächlich für Kinder, die unter Behand-
lung einer akuten lymphoblastischen Leu-
kämie standen. Für solche Patienten ist
eine Varizellenerkrankung weiterhin eine
schwere und potenziell tödlich verlaufen-
de Erkrankung.
Die meisten Studien, welche auf einen ge-
nerellen Einsatz dieser Vakzine ausgerich-
tet waren, sind in den USA durchgeführ t
worden. Sie haben klar ergeben, dass der
Impfstof f immunogen ist, eine Schutzwir-
kung hat und wenige Reaktionen auslöst.
Diese Vakzine scheint also alle notwendi-
gen Qualitäten für eine generelle Ver wen-
dung zu besitzen. Sie ist daher seit 1996
im amerikanischen Routine-Impfplan ein-
geführ t worden: systematische Impfung
der Kleinkinder, Nachholimpfung der älte-
ren Kinder und Jugendlichen
1).
Immunogenität
Die Vakzine ist beim Kind zwischen 12 Mo-
naten und 12 Jahren sehr immunogen.
Eine Einzeldosis induzier t in dieser Alters-
gruppe eine Serokonversion mit schüt-
Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz?
La version française de cet ar ticle est parue dans Paediatrica (Vol. 13, No. 6, 2002, p. 12–17)
23 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
zendem Antikörper titer zwischen 95,7%
(12–13 Jahre) und 98.8% (12–36 Monate).
Bei unter 12 Monate alten Säuglingen ist
die Serokonversion nach einer einzigen
Dosis hoch (97,5% 9–11 Monate), jedoch
ist der erreichte Titer ungenügend. Beim äl-
teren Kind und Er wachsenen sind zwei
Impfdosen notwendig damit 100% Sero-
konversion mit einem schützenden Anti-
körper titer erreicht werden
2).
Die Dauer der immunogenen Wirkung wur-
de durch mehrere Arbeiten belegt und er-
streckte sich von minimal 5 bis maximal
20 Jahre
3) –7) .
Schutzwirkung
Die Wirksamkeit des Schutzes der Vakzine
gegen Varizellen wurde auf verschiedenen
Ebenen verifizier t.
Die amerikanische «Nor thern California
Kaiser Permanente»HMO, welche seit
1996 die nationale Empfehlung der gene-
rellen Impfung der Kleinkinder anwendet,
hat 7000 Kinder im Alter von 12 bis 24
Monaten geimpft. In dieser Kohor te war
die gemessene Schutzwirkung 83%
8). Von
Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die
Varizellen Inzidenz bei den älteren (5–19
Jahre) nicht geimpften Kindern derselben
HMO rückgängig war. Dies lässt ein Phäno-
men von Gruppenschutz vermuten
8). Eine
Studie, die von Mär z 1997 bis November
2000 Kinder zwischen 13 Monaten und
16 Jahren untersuchte, zeigte eine Schutz-
wirkung von 85% (95% CI: 78–90%); zu-
dem zeigten 12% eine attenuier te Varizel-
lenerkrankung
9). Es kann daher gesagt wer-
den, dass die Impfung 97% der Patienten
(95% CI: 93–99%) gegen eine schwere undmittelschwere Varizellenerkrankung sowie
85% gegen jegliche Varizellenerkrankung
(alle Schweregrade) schützte. Dieser Anteil
von 85% ist in Wirklichkeit ein Mittelwer t,
welcher eine gewisse Heterogenität in
dieser Altersklasse beinhaltet: 79% unter
5 Jahren, 89% zwischen 5 und 10 Jahren
sowie 92% über 10 Jahre.
Eine andere Studie, welche von Februar
1996 bis August 1997 eine Kleinkinder-
population in Kinderhor ten und Kindergär-
ten untersuchte, ergab eine Schutzwirkung
gegen Verizellen (alle Schweregrade) von
83% (95% CI: 69–91%)
10).
In einer der Pilotregionen (West Philadel-
phiaCounty) der generalisier ten Varizel-
lenimpfung in den USA wurde zwischen Ja-
nuar 1995 (vor Einführung der generali-
sier ten Impfung) und Dezember 2000 ein
Rückgang von 79% der Varizelleninzidenz
bei Kleinkindern beobachtet
11).
Es bestehen erste Hinweise, dass die ge-
neralisier te Varizellenimpfung von Kindern
ebenfalls zu einer Verminderung des Her-
pes Zoster (Gür telrose) bei geimpften Kin-
dern führ t. In der Tat war die erhobene In-
zidenz der Gür telrose in der geimpften Ko-
hor te der genannten Nor thern California
Kaiser Permanente9/100 000/Jahr an-
statt der er warteten Inzidenz von
34/100 000/Jahr, welche aufgrund von
Beobachtungen vor Einführung der gene-
ralisier ten Impfung errechnet worden
war
8). Trotz der bedingten Vergleichbarkeit
mit einer historischen Kohor te ist es mög-
lich, in einer im Kleinkindesalter geimpften
Population ein relatives Risiko für eine Gür-
telrose von 0,23 (CI 95%: 0,10–0,48%) zuberechnen. Wahrscheinlich ist die Abnah-
me des Risikos dieser Herpes-Zoster-Er-
krankung an die Abnahme der Hautläsio-
nen gebunden. Die gleiche Beobachtung
wurde bei Kindern gemacht, welche wegen
einer Leukämie geimpft worden waren.
Impfversager
Wie bereits er wähnt
9),10) werden Varizellen
bei 83–85% der geimpften Individuen ver-
hinder t und bei 12% attenuier t. Attenuier te
Varizellen werden als «breakthrough di-
seases» bezeichnet, um diese von den voll-
ständigen Impfversagern (3–5%) zu unter-
scheiden. Folgende Faktoren sind als Ri-
sikofaktoren für Impfversagen (Attenuation
und vollständiges Versagen) identifizier t
worden: Impfung vor dem Alter von 15 Mo-
naten, Immundefizit, intrafamiliäre Anste-
ckung, Virenimpfdosis ungenügend
12).
Reaktogenität
Die Varizellenvakzine wird in der Regel gut
ver tragen. Ein Er ythem und Schmer zen an
der Einstichstelle, welche durch die Injek-
tion per se und nicht durch den Impfstof f
bedingt sind, werden in 15–20% der Fälle
beobachtet. Ein kur z andauernder Status
febrilis wird bei ungefähr 15% der Geimpf-
ten beobachtet. Ein windpockenar tiger
Ausschlag wird bei 4% festgestellt. Dieser
tritt 7 bis 21 Tage nach der Impfung in
Form von etwa 10 Bläschen auf. Falls mehr
als 30 Bläschen oder diese innerhalb von
7 Tagen nach Impfung auftreten, handelt
es sich um eine interkurrente Varizellen-
erkrankung. Gelegentlich besteht der post-
vakzinale Ausschlag nur aus 2–4 Bläschen,
welche gruppier t um die Einstichstelle auf-
treten
13).
24 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
Generelle Impfstrategien
und ihre Folgen
A priori sind zwei generelle Impfstrategien
möglich. Kleinkinder können in einem Al-
ter geimpft werden, in welchem die meis-
ten noch nicht mit Varizellen in Kontakt ge-
kommen sind. Adoleszente können geimpft
werden, damit verhinder t wird, dass sie
das Er wachsenenalter nicht immun errei-
chen und eine potenziell schwerere Form
von Varizellenerkrankung durchmachen.
Die Impfung der Kleinkinder zielt auf eine
Eliminierung der Varizellen und langfristig
der Gür telrose hin. Die Impfung der Ado-
leszenten dagegen versucht alleinig Vari-
zellen der Er wachsenen und deren Komp-
likationen zu verhindern.
Die zwei Strategien haben vorhersehbare
gegensätzliche Folgen: erstere führ t zur
Unterdrückung der Verbreitung des Wild-
virus (vorausgesetzt, dass eine genügend
hohe Durchimpfungsrate erreicht wird) und
auch zur Unterdrückung der Erhaltung des
Immunschutzes durch wiederholte Virus-
exposition; zweitere führ t zur Erhaltung der
Virusverbreitung und der Bevölkerungs-
immunität. Die Erhaltung dieser Immunität
ist sehr wichtig: sie verhinder t die Reakti-
vierung des nach primärer Varizellenerkran-
kung in den posterioren Ganglienzellen la-
tenten Varizella-Zoster-Virus. Tatsächlich
wurde nachgewiesen, dass Er wachsene,
welche regelmässigen Kontakt mit Kindern
haben, ein verminder tes Risiko für Gür-
telrose haben (relatives Risiko 0,75)
14). Die-
se Beobachtung wird auch durch die Fest-
stellung eines verminder ten Gür telrose-
risikos bei japanischen Kinderär zten ge-
stützt.Ungewissheiten einer generellen
Kleinkind-Impfung
Trotz der genannten, nicht zu bezweifeln-
den Qualitäten einer generellen Kleinkind-
Impfung bestehen weiterhin bestimmte Un-
gewissheiten.
1. Die Studien, welche eine andauernde
Wirkung der Immunogenität nachwie-
sen
3) 4) 5) 6) 7) , wurden in Populationen
durchgeführ t, in welchen noch eine
hohe Varizellenprävalenz bestand
und in denen der Wildvirus stark ver-
breitet war. Dieser hatte daher wahr-
scheinlich einen gewichtigen
Anteil am Erhalt der Immunität.
2. Obwohl die pathophysiologischen
Kenntnisse des Verhaltens des
Varizella-Zoster-Virus beim Menschen
und die ersten Beobachtungen bei
geimpften Kindern
8)letztendlich die
Voraussage einer Abnahme der
Gür telrose ermöglichen, zeigt eine
Modellhochrechnung zu den Folgen
nach genereller Kleinkindesimpfung,
dass nach Einführung der generellen
Impfung mit genügend hoher Durch-
impfungsrate, um die Verbreitung
des Wildvirus zu unterbinden, eine
Epidemie von Gür telrose 50% der
Bevölkerung von 10 bis 44 Jahren
(ungeimpft!) betref fen und 50 Jahre
andauern würde
14). Eine solche
Epidemie wäre durch die fehlende
periodische Erneuerung des
Impfschutzes verursacht, welche bis-
her durch den wiederholten Kontakt
der Bevölkerung mit dem Wildvirus
möglich war.3. Die kritische Durchimpfungsrate
(= notwendige Impfungrate, um
das Zirkulieren des Wildvirus zu
verhindern) ist sehr hoch (97%)
15).
In zahlreichen Industrieländern, und
besonders in der Schweiz, scheint
eine solche Rate nicht erreichbar.
Varizellenerkrankung in der Schweiz:
Standor tbestimmung bei Kindern
Inzidenz
Da Varizellen nicht meldepflichtig sind, wur-
de 1998 durch das Sentinella-System eine
spezielle Erhebung durchgeführ t. Daraus
resultier te, dass zirka 60 000 Fälle pro
Jahr auftreten, der Grossteil (84%) bei Per-
sonen unter 15 Jahren
6). Diese Zahlen sind
wahrscheinlich eine Unterschätzung, wel-
che durch Seroprävalenzstudien korrigier t
wird. In einem Kollektiv von 1788 Jugend-
lichen zwischen 13 und 15 Jahren, welche
in verschiedenen Regionen der Schweiz
wohnten, fanden Heininger et al. eine Sero-
prävalenz von 96,5% (95% CI: 95,7–
97,4%)
17). Diese Beobachtung wurde durch
jene von Aebi et al. im Kanton Bern be-
stätigt: die Seroprävalenz bei Kindern zwi-
schen 12 und 16 Jahren war 96,1% (95%
CI: 93,7–98,5%)
18).
Schweregrad
Der Schweregrad von Varizellenerkrankun-
gen kann in der Schweiz nur durch die Er-
hebungen von Hospitalisationen bewer tet
werden. Die jährliche Anzahl pädiatrischer
Hospitalisationen wegen Varizellen wird auf
70
19)bis 77 (Extrapolation auf 12 Monate
der von der Swiss Pediatric Sur veillance
Unit zwischen April und September 2000
erhobenen Daten
20)) geschätzt. Die Mehr-
25 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
heit dieser Hospitalisationen (zwischen
50
21)und 58 20)) sind durch Varizellen per se
motivier t. Bei den verbleibenden handelt
es sich um Varizellen, welche im Verlauf
einer anders motivier ten Hospitalisation
auftreten. Erstere sind bei immunkompe-
tenten Kindern etwas häufiger (34
20)) als
bei immungeschwächten (24
20) bis 27 21)).
Bei immunkompetenten Kindern ist die
häufigste Komplikation, die zur Hospitali-
sierung führ t, eine transitorische Zerebel-
litis (75%), selten eine haemorrhagische
Form oder eine kutane Superinfektion
22).
Sehr schwere Verläufe sind extrem selten.
Varizellenerkrankung in der Schweiz:
Standor tbestimmung bei Erwachsenen
Die Inzidenz von Varizellen bei Er wachse-
nen wird auf zirka 9600 Fälle pro Jahr ge-
schätzt
16). Diese relativ kleine Fallzahl ge-
nerier t jedoch gleichviele Hospitalisationen
(70
19)) wie die sehr grosse Fallzahl bei Kin-
dern. Daraus lässt sich für Er wachsene ein
25-mal grösseres relatives Risiko für
eine Hospitalisation als bei Kindern be-
rechnen. Ver wendet man die Zahlen der
medizinischen Abteilungen des CHUV
(ausser Gynäkologie-Gebur tshilfe) und
extrapolier t diese auf die gesamte Schweiz,
ergibt dies folgende Resultate: 7,6 Fälle
von Meningitis pro Jahr, 1,6 Enzephalitis,
26,6 Pneumopathien, 3,8 andere Kom-
plikationen, 30,4 Hospitalisationen ohne
Varizellenkomplikationen. In der CHUV-Ka-
suistik betrif ft die Mehrheit der Er wach-
senenhospitalisationen im Zusammen-
hang mit Varizellen (89%) Personen im
Alter von 16 bis 49 Jahren
23). Die Beob-
achtungen des Depar tements für Gynä-
kologie-Gebur tshilfe des CHUV ergeben fürden Kanton Waadt eine Varizelleninzidenz
von 0,04% während der Schwanger-
schaft
24). Diese Zahl ist vergleichbar mit
denjenigen von internationalen Beobach-
tungen und erlaubt eine Inzidenz von 32
Fällen pro Jahr zu prognostizieren. Die Ri-
siken einer Varizellenerkrankung während
der Schwangerschaft sind dreifach: er-
höhter Schweregrad für die Mutter (Er-
wachsenenrisiko erhöht durch die Schwan-
gerschaft), kongenitales Varizellensyndrom
und perinatale Varizellenerkrankung.
Generelle Varizellenimpfung
in der Schweiz?
Diese Frage beinhaltet drei verschiedene
Aspekte, welche nacheinander diskutier t
werden:
1. Was wollen wir betref fend Varizellen
verhindern?
2. Welche Strategie müssen wir wählen,
um diese Ziele zu erreichen?
3. Wie wird die gewählte Strategie
praktisch durchgeführ t?
Was wollen wir betreffend Varizellen
verhindern?
Wegen der genannten epidemiologischen
Beobachtungen ist es berechtigt, Varizel-
len beim Er wachsenen im Allgemeinen,
und bei Schwangeren im Speziellen, vor-
beugen zu wollen. Gründe sind der höhe-
re Schweregrad in dieser Altersgruppe und
die oft schweren fötalen oder neonatalen
Komplikationen ohne ver fügbare adäqua-
te Behandlung. Die Prävention von Vari-
zellen beim immungeschwächten Kind ist
wegen des Potenzials eines sehr bösar ti-
gen Verlaufes unver zichtbar.Die Prävention von «gewöhnlichen» Vari-
zellen beim gesunden Kind ist wegen des
gutar tigen Verlaufes nicht prioritär. Aller-
dings könnte sie aufgrund sozioökonomi-
scher Gründe gerechtfer tigt werden, wie
dies in den USA wegen grosser Fallzahlen
(kranke Kinder mit zur Pflege des Kindes
«immobilisier ten» Eltern) der Fall ist. Die
Varizellenkomplikationen beim gesunden
Kind sind zu selten und insgesamt eher
gutar tig, als dass daraus um jeden Preis
eine Präventionsforderung abgeleitet wer-
den könnte.
Welche Strategie müssen wir wählen,
um unsere Ziele zu erreichen?
Die Strategie einer generellen Impfung des
Kleinkindes würde die Prävention aller
Komplikationen in allen Altersgruppen er-
möglichen. Jedoch sind nicht alle darin ent-
haltenen Ziele bei uns prioritär. Zudem
sind die Ungewissheiten, welche mit den
Bedingungen und Folgen einer generellen
Impfung verbunden sind (siehe oben),
gross genug, um diese Strategie nicht ge-
radewegs zu wählen.
Die Strategie einer generellen Impfung der
Adoleszenten wäre ausreichend, eines der
Ziele, die Prävention von Varizellen beim Er-
wachsenen und der Folgen auf Fötus oder
Neugeborenes bei Varizellen während der
Schwangerschaft, zu erreichen. Die Präven-
tion von Varizellen bei immungeschwäch-
ten Kindern verlangt die Beibehaltung einer
selektiven Impfung von Patienten dieser
Kategorie.
Schlussfolgernd kann festgestellt werden,
dass die generelle Impfung der Adoles-
zenten und die Beibehaltung der selektiven
Impfung die beste Strategie ist, die ge-
steckten Ziele zu erreichen.
Wie wird die gewählte Strategie
praktisch durchgeführ t?
Wie bereits er wähnt, ist ein ausreichender
Impfschutz nur durch die Verabreichung
von zwei Impfdosen bei Personen von 13
und mehr Jahren erreichbar. Vor zugsweise
ist deshalb das Zielalter auf die Präado-
leszenten (10–12 Jahre) auszurichten, da
in diesem Alter eine einzige Dosis genügt.
Dies ist durchaus möglich, da Seropräva-
lenzstudien zeigen, dass der maximale An-
teil von seropositiven Personen (> 96%) im
Alter von 10 Jahren erreicht wird und Jah-
re über dieses Alter hinaus konstant
bleibt
18).
Obwohl es sich um eine generelle Impfung
handelt, kann es nicht in Frage kommen,
alle Präadoleszenten systematisch zu
impfen, wenn man bedenkt, dass minde-
stens 96% Varizellen bereits vor der Imp-
fung durchgemacht haben dürfen
17) 18) . Das
Problem ist daher, die 4% Präadoleszenten
zu identifizieren, welche Varizellen vor dem
Alter von 10 Jahren noch nicht gehabt ha-
ben! In diesem Zusammenhang bestehen die
nachstehend ausgeführ ten drei Möglich-
keiten, welche in Tabelle 1zusammenge-
fasst sind. Die angegebenen Zahlen be-
ziehen sich auf eine Jahreskohor te von
80 000 Präadoleszenten (entsprechend
den Gebur ten pro Jahr in der Schweiz).
1.Systematische serologische
Kontrolle der Präadoleszenten und
Impfung der seronegativen Personen
(Variante «alleinige Serologie»).
Diese Methode hat den Vor zug,
dass die Impfung nur den Personen
(3200) angeboten wird, die sie tat-
sächlich benötigen. Allerdings beruht
sie auf einer sehr grossen Anzahl
von Blutentnahmen (80 000) mit
den daraus resultierenden Kosten,
Diagnoseproblemen und Fehler-
möglichkeiten.
2.Systematische Anamnese (mit
den Müttern!) und Impfung der
Präadoleszenten ohne gesicher te
Anamnese für Varizellen (Variante
«alleinige Anamnese»).
Zieht man in Betracht, dass in der
Schweiz 14% der Varizellenanamne-sen der Personen zwischen 9 und
18 Jahren negativ oder unsicher
sind
25), würde diese Methode zu
11 200 Impfungen führen. Die Wahr-
scheinlichkeit einer falsch positiven
Anamnese ist 2% und diejenige
einer falsch negativen 74%
25), was
zu 1400 verpassten Impfmöglich-
keiten und zu 8300 nicht notwendi-
gen Impfungen führen würde. Trotz
der Kombination von verpassten
Impfmöglichkeiten und unnötigen
Impfungen hat diese Vorgehensweise
den Vor zug der Einfachheit
und wurde deshalb in Deutschland
vor wenigen Monaten eingeführ t.
3.Systematische Anamnese (mit
den Müttern!), serologische Kontrol-
le der Personen mit unsicherer oder
negativer Anamnese, anschliesend
Impfung der tatsächlich seronegati-
ven Präadoleszenten (Variante
«Anamnese und Serologie»).
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine
unsichere oder negative Anamnese
serologisch bestätigt wird, ist 26%
25).
Diese Vorgehensweise würde zu
2900 Impfungen von Präadoleszen-
ten führen. Diese Variante ist ge-
nauer als Variante 2, weil die unnöti-
gen Impfungen vermieden würden.
Allerdings würde sie ebenfalls
wegen falsch positiven Anamnesen
zu 1400 verpassten Impfmöglich-
keiten pro Jahr führen. Zudem ist
sie wegen der mehrschichtigen
Entscheidungsebenen komplexer.
Andererseits würde diese Methode,
da nur auf die tatsächlich notwendi-
gen Impfungen ausgerichtet, wahr-
26 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
Tabelle 1:Anzahl Interventionen je nach Methode
zur Indentifikation der Impfkandidaten
Anzahl Impfungen Anzahl Tests
durchgeführtunnötig verpasst durchgeführtunnötig
alleinige Serologie3200 — — 80 000 76 800
alleinige Anamnese11 200 8300 1400 — —
Anamnese & Serologie2900 — 1400 11 200 —
27 Formation continue / For tbildung Vol. 14 No. 1 2003
scheinlich positiv von Eltern ange-
nommen werden, welche die Anzahl
Impfungen limitieren möchten.
Die Anzahl Inter ventionen, welche mit je-
der dieser Varianten assoziier t ist, wird in
Tabelle 1zusammengefasst. Es wird klar
verdeutlicht, dass die drei Vorgehenswei-
sen sich in ihrer Anwendungseinfachheit
und ihrer Genauigkeit die Kandidaten zu
identifizieren unterscheiden. So ist die
erste Variante («alleinige Serologie») die ge-
naueste Methode, da alle
Präadoleszenten
geimpft würden, die eine Impfung wirklich
bräuchten – und nur
solche. Anderseits
beinhaltet diese Variante die kompli-
zier teste Logistik.
Die einfachere zweite Variante («alleinige
Anamnese») würde ihr Ziel erreichen, in-
dem sie 98% der noch nicht immunen Prä-
adoleszentenpopulation impfen würde. Hin-
gegen würden jedes Jahr 1400 Jugendli-
che nicht immun ins Er wachsenenalter
kommen und somit mit der Zeit ein ge-
wichtiges Kontingent von anfälligen Per-
sonen darstellen.
Die dritte Methode («Anamnese und Sero-
logie») ist ein Mittelweg bezüglich Kom-
plexität der Logistik und Genauigkeit. Sie
würde das Ziel einer Immunisation der Prä-
adoleszentenpopulation gleich gut, aber
nicht besser wie die zweite Variante er-
reichen.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die für die
Schweiz adäquateste Variante noch nicht
bestimmt. Besonders der finanzielle As-
pekt muss auch berücksichtigt werden. Die
Studien, welche die Kosten der verschie-denen Varianten vergleichen, werden zur-
zeit erarbeitet. Auch das Ausmass der Ak-
zeptanz der Varianten bei den praktizie-
renden Är zten, Kinderär zten und Allge-
meinmedizinern muss evaluier t werden. Es
ist zudem von Bedeutung her vor zuheben,
dass der behandelnde Ar zt mit seiner
Kenntnis von persönlicher und Familien-
anamnese am besten in der Lage ist, die
Folge einer falsch positiven Anamnese zu
«korrigieren» und damit die verpassten
Impfungen zu reduzieren.
Referenzen 1) Centers for Disease Control. Prevention of varicella:
Recommendations of the Advisor y Committee on Im-
munization Practices (ACIP). MMWR 1996; 45: 1–36.
2) Archives Glaxo SmithKline.
3) Zerboni L & al. J Infect Dis 1998; 177: 1701–4.
4) Johnson CE & al. Pediatr Res 1992. 31; 165A (Abst
977).
5) Clements DA. Infect Clin Nor th Am 1996; 10: 617–29.
6) Ozaki T & al. Vaccine 2000; 18: 2375–80.
7) Asano Y & al. Pediatrics 1994; 94: 524–6.
8) Black S & al. ESPID 2002; abst.
9) Vaquez M & al. N Eng J Med 2001; 344: 955–60.
10) Clements DA & al. Pediatr Infect Dis J 1999; 18:
1047–50.
11) Sweward JF & al. New Eng J Med 2002; 287: 606–11.
12) Lim YJ & al. Arch Dis Child 1998; 79: 478–80.
13) Weibel R & al. N Eng J Med 1984; 310: 1409–15.
14) Brisson M & al. Vaccine 2002; 20: 2500–7.
15) Halloran ME. Infect Dis Clin Nor th Am 1996; 10:
631–56.
16) Zwahlen M & al. In Rappor t Sentinella 1998. OFSP
1999.
17) Heininger U & al. Pediatr Infect Dis J 2001; 20: 775–8.
18) Aebi C & al. Vaccine 2001; 19: 3097–103.
19) Statistiques VESKA/H+ 1993–1996.
20) Heininger U & al. Bull OFSP 2001; N°36: 656.
21) Extrapolation à la Suisse de la casuistique du CHUV-
HEL 1999–2000.
22) Statistiques CHUV-HEL 1999–2000.
23) Statistiques CHUV 1991–2001.
24) Dr Y. Vial, communication personnelle.
25) Baer G & al. ICAAC 2001; abst G-1549.
Bernard Vaudaux, Lausanne
Claire-Anne Siegrist, Genève
Übersetzung: Pietro Scalfaro, Lausanne
Korrespondenzadresse:Dr B. Vaudaux
Av. de la Gare 7, 1003 Lausanne
E-Mail: ber
nard.vaudaux@bluewin.ch
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Bernard Vaudaux , Service de pédiatrie DMCP, CHUV Lausanne