Familien mit Migrationshintergrund sehen sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Seit jeher, doch heutzutage angesichts der mühe- und gefahrvollen Migrationswege ganz besonders. Ich will versuchen, die wichtigsten Entbehrungen aufzuzählen, die zur Stärkung oder Lockerung der Familienbande führen. Kinder- und Allgemeinärzte, Geburtshelfer und Psychiater sind hier besonders gefordert.
19
Spezialnummer Migranten 2016
Familien mit Migrationshintergrund sehen sich
zahlreichen Herausforderungen gegenüber.
Seit jeher, doch heutzutage angesichts der
mühe- und gefahrvollen Migrationswege ganz
besonders. Ich will versuchen, die wichtigsten
Entbehrungen aufzuzählen, die zur Stärkung
oder Lockerung der Familienbande führen.
Kinder- und \bllgemeinärzte, Geburtshelfer und
Psychiater sind hier besonders gefordert.
Mit wem wandert man aus?
Einst kamen Saisonarbeiter ohne Frau und
K inder zu uns. Es kommt auch heute noch vor,
dass Ehepartner oder Kinder ihrem Gatten,
ihrer Gattin, Vater und/oder Mutter erst nach
Monaten oder Jahren folgen. Vorausgesetzt,
dass der Familienzusammenschluss stattfin-
den kann. \bsylbewerber kommen als \bufklä –
rer, eingewanderte portugiesische \brbeiter
oder Sans-papiers aus Ecuador lassen ihre
Kinder bei den Grosseltern. Nicht zu verges –
sen sind die unbegleiteten Minderjährigen
(UM\b), Migranten ohne Familienmitglieder.
Es gibt Verluste, Trauer ist oft schwer zu
bewältigen. Bande aufrechterhalten stellt
tr ot z Sk y p e eine H er aus for der ung dar. Es f ällt
schwer, den zu Hause gebliebenen Misserfol –
ge mitzuteilen – die \bufenthaltsbewilligung,
die auf sich warten lässt, keine \brbeit, die es
erlauben würde, die Seinen finanziell zu unter –
stützen: Viele wiederholen immer wieder
«\blles geht gut» oder, schlimmer, sie schwei –
gen. Und kommt endlich das Wiedersehen,
klaffen die Erwartungen auseinander. Die El –
tern freuen sich unendlich, ihre Kinder wie –
derzufinden, diese aber haben sich verändert,
vor allem aber leiden sie darunter, ihre ver –
traute Welt verlassen zu müssen: Sie springen
ihnen nicht in die \brme. Oft führt sie ihre Lo –
yalität gegenüber den Grosseltern, das Ge –
fühl, sie verlassen zu haben, in eine lange
depr es si ve Phase, die in der Schule Einglie de –
rung und Lernen beeinträchtigt.
In Zeiten der Verunsicherung oder bei wichti –
gen Ereignissen, wie Schwangerschaft und
Geburt, wird oft das Fehlen der Grossfamilie
schmerzhaft empfunden.
Migrationsplan
und Migrationsauftrag
Je der Mig r ant hat einen Mig r ationsplan : Üb er –
leben, arbeiten, seine finanzielle Situation
verbessern, heiraten, studieren. Er erhält je –
doch durch Familie oder Lebensgemeinschaft
auch einen A\bftrag: \bsyl finden, die Familie
finanziell unterstützen, erfolgreich ein Studi –
um abschliessen. Kinder, mit \busnahme der
UM\b, haben keinen Migrationsplan: Sie be –
schliessen nicht selbst auszuwandern. Hinge –
gen sehen sie sich mit einem \buftrag, gar ei –
nem doppelten \buftrag betraut. Einerseits
eine \busbildung erwerben, andererseits der
ererbten Welt (ich ziehe diesen Begriff dem
Wort «Kultur» vor) treu bleiben. Diese beiden
\bufträge können bald in Konflikt geraten: Ein
erfolgreicher Schulbesuch setzt voraus, dass
das K ind sich von seiner neuen Umwelt dur ch –
dringen lässt, was die Eltern ihrerseits als
bedrohlich empfinden können. Umso mehr als
diese of t von ihr en eigenen Elter n zur Re chen –
schaft gezogen werden: «Macht uns ja keine
kleinen Schweizer aus ihnen!». \buch unbeglei –
tete Jugendliche bekommen oft einen \buftrag
seitens der Familie. Ich erinnere mich an ei –
nen 14-jährigen Knaben, den die Eltern auf –
forderten, sie als verstorben zu erklären, um
seine Chancen, \bsyl zu erhalten, zu vergrös-
sern: Um seinem \buftrag gerecht zu werden,
musste er in einem gewissen Sinne eine \brt
Trauer erarbeiten.
Reiseerfahrungen
und -geheimnisse
Volle Boote die zwischen Libyen und Italien
Schiffbruch erleiden, das Foto eines ertrun –
kenen Kindes auf einem Strand zwischen der
Türkei und Griechenland, Barrikaden an den
Grenzen Europas haben uns die Schrecken
des Exils vor \bugen geführt. Diese Erfahrun –
gen können die gemeinsam reisenden Men –
schen zusammenschweissen. Sie erzeugen
aber auch eine \brt dauernden \blarmzustand,
der \bufregung und das Weinen der Kinder
verbietet. Wenn sie herumfuchteln oder
schreien, muss man sie zum Schweigen brin -gen, damit das B oot nicht in G ef ahr ger ät . D er
Kampf ums Überleben diktiert die Erziehungs
–
methoden. Im Übrigen wird die Reise bei der
\bnkunft im Gastland nicht unbedingt so er –
zählt, wie sie tatsächlich verlief. Ein junger
\bfghane erzählte mir, sein Vater habe Frau
und Kindern einen «offiziellen» Reisebericht
vorgeschrieben, den sie jedermann in der
Schweiz, inbegriffen Ärzte und Lehrer, die
sich danach erkundigten, erzählen mussten.
Viele Geheimnisse sind uns deshalb nie zu –
gänglich, und um meine Patienten nicht zum
Lügen zu zwingen, beschloss ich, diesbezüg –
lich keine Fragen zu stellen.
Aufnahmebedingungen und un –
sichere Aufenthaltsbewilligungen
Familien die keine gesicherte \bufenthalts –
bewilligung erhalten haben, neigen dazu,
manchmal jahrelang, in einem Z\bstand des
Überlebens zu verharren, der die Familie in
einem \b lar mzus t and hält , in einer \b r t p er ma –
nenter, durch Krieg, Hunger, und später auf
der \buswanderung diktierter «\busgangs –
sperre». Dieser \blarmzustand bewirkt ein
Einfrieren der durch die vielfachen Verluste
verursachten Trauer: \bnzeichen dafür sind
Fixierung auf die Gegenwart, Unmöglichkeit
sich in die Zukunft zu projizieren (was das
Erlernen der Gastsprache problematisch
macht ) , Ver b ot der D epr es sion und ver mehr t
rohe Erziehungsmethoden. (Dieses «Einfrie –
r en der Zeit» kann die Elter n im Übr igen auch
für Wachstum und Entwicklung ihrer Kinder
blind machen.)
Da sie keine \brbeitsbewilligung bekommen,
haben gewisse Jugendliche nach \bbschluss
der Schule kein Recht, eine Lehre zu begin –
nen. Sie schlagen die Zeit tot und leiden, und
die Eltern mit ihnen. \bus Machtlosigkeit.
Machtlosigkeit die sie schmerzlich auch dann
empfinden, wenn die Nothilfe – in Form von
Sachleistungen – keinen Rappen übrig lässt,
um ihrem Kind selbst im Winter eine Busfahr –
karte zu bezahlen, oder ein Spielzeug oder
Far bs tif te zu kau fen : Von «mangelnder Stimu –
lierung» des Kindes zu sprechen, wäre dann
äusserst geschmacklos. Zudem vermittelt
diese Machtlosigkeit den Kindern ein ange –
schlagenes Bild ihrer Eltern.
Dynamik kollektiver Trauer
Es kommt vor, dass Eltern und manchmal
auch Kinder in dem Moment «dekompensie –
ren», da sie eine dauerhafte \bufenthaltsbewil –
Familienbande im Spannungsfeld
der Migration
Jean-Claude Métraux, Lausanne
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
1J.-C Métra
20
Spezialnummer Migranten 2016
Referenzen1) Jean – Claude Métraux, De\bils collectifs et création
sociale, La Dispute, Paris, 2004.
2) Jean – Claude Métraux, La m ig r ati o n c o m m e m étap h o –
re, La Dispute, Paris, 2011.
Korrespondenzadresse
Dr Jean- Claude Métraux
Pédopsychiatre FMH
Rue Cheneau- de-Bourg 10
1003 Lausanne
jcmetraux@ bluewin.ch
Die A\btoren haben keine finanzielle Unterstüt –
z\bng \bnd keine anderen Interessenkonflikte im
Z\bsammenhang mit diesem Bietrag deklariert.
Familie vertreten) und der Welt des Gastlan
–
des (in erster Linie durch die Schule verkör –
p er t ) . \b ls hielten sie in je der Hand ein Seil. \b m
einen Ende: Vater, Mutter, Grosseltern, Onkel
und Tanten, die im Dorffriedhof ruhenden
\bhnen, und alle ziehen in Richtung Heimat –
land. \bm anderen Ende ziehen Lehrer, Psy –
chologen, Ärzte, Schulsozialarbeitende und
Schulpflegefachfrauen in Richtung Welt des
Gastlandes. Unmöglich, in dieser Situation die
beiden Enden zu verknüpfen und zu erreichen,
was ich eine schöpferische Integration nenne.
Nur ein Ende loslassen, führt unweigerlich
zum Stur z : Schulschw ier igkeiten, wenn es das
Band der neuen Welt ist, dramatische Loyali –
t ät spr obleme, wenn es sich um das B and ihr er
Herkunft handelt. Die einzige Möglichkeit, um
stehen zu bleiben: Beide loslassen! Doch der
zu bezahlende Preis ist die doppelte Margina –
lisierung, die sich durch zahlreiche Symptome
kennzeichnet: Gewalttätigkeit und Kriminali –
tät, Drogenabhängigkeit, Suizidversuche, Psy –
chose.
Was tun?
\bbschliessend einige Ratschläge für Vorbeu –
gung und Betreuung:
• Gigantischen Respekt für Familien im Zu –
stand des Überlebens zeigen, sei es für
ihre erzieherischen Methoden, oder ihre
Schwierigkeiten, sich den \butonomiebe –
strebungen ihrer Kinder anzupassen, für ihr
Haften an der ererbten Kultur und ihre
Schwierigkeiten, unsere Sprache zu lernen,
sich zu «integrieren» oder ihre Zukunft zu
denken, ganz besonders aber für die un –
glaubliche Kraft, die sie bewiesen haben,
um bis zu uns zu gelangen.
• \buf jegliche Neigung, das Elternbild zu ent –
wer ten, ver zichten – indem w ir B eg r if fe w ie
«mangelnde Förderung» oder «Übernahme
der Elternrolle» vermeiden –, ander erseits,
indem wir die Muttersprache auf
werten
(durch Zuhilfenahme eines Übersetzers).
• Haltungen vermeiden, die die Zerrissenheit
der Kinder zwischen beiden Welten verstär –
ken.
• Kurz, sich durch \bnerkennung leiten lassen.
ligung erhalten. Dies erklärt sich durch das
plötzliche «\buftauen» der bis dahin im Tiefge
–
frierfach der Psyche verwahrten Gefühle.
Wellen der Depression können dann mehrere
Familienmitglieder überfluten, wenn auch
nicht alle. Eine Studie zur Dynamik kollektiver
Trauer
1) zeigt, dass innerhalb einer Familie
(oder einer breiteren Gemeinschaft) der Ka –
lender der Trauerverarbeitung von einer Per –
son zur anderen nicht derselbe ist. Würden
alle Familienmitglieder die depressive (für
jede Trauer charakteristische) Phase gleich –
zeitig durchmachen, würde die Familie in ei –
nem Tränenmeer ertrinken und niemand hätte
mehr die notwendige Energie, um die für die
Gruppe lebensnotwendigen \bufgaben zu er –
füllen. Diese zeitliche Verschiebung der Trau –
er führt aber auch zu einer \bbgrenzung der
Familienmitglieder untereinander; sie kann sie
vorübergehend oder, wenn die Solidarität
unter ihnen nicht genügend stark ist, gar
endgültig verfremden.
Zwischen zwei Welten
(Interkulturalität)
Im Ursprungs- und Gastland ist man nicht auf
dieselbe Weise Vater und Mutter oder Gatte
und Gattin. Nun werden Lebens- und Verhal –
tensweisen im Ursprungsland durch die Fach –
leute im Gastland oft entwertet (Fachleute die
zudem vergessen, dass der \blarmzustand, die
Unsicherheit und Fremdartigkeit der neuen
Umgebung zahlreiche Eltern dazu führen,
sich an Gewissheiten und das Erbe ihres Ur –
sprungslandes zu klammern). Das Elternbild
nimmt dadurch zusätzlichen Schaden, noch
unterstrichen durch fehlende Deutsch-, Fran –
zösisch- oder Italienischkenntnisse, Spra –
chen, die auf der «Sprachenbörse» höher
b ewer tet wer den als die meis ten Mut ter spr a –
chen. Die Eltern leiden damit unter zahlrei –
chen «\bnerkennungskrankheiten»
2), die sich
auf ihre Kinder überwälzen. Diese wiederum
ver suchen, die Tr aumen ihr er Elter n zu heilen,
indem sie ihr eigenes handeln Können
2) unter
Beweis stellen, sei es «positiv» durch das
\bnnehmen einer elterlichen Haltung (wir müs –
sen dann unbedingt jegliches vorschnelles
Verurteilen dieses Übernehmens der Eltern –
rolle vermeiden !), sei es «negativ» durch ge –
walttätiges Verhalten.
Die grösste Gefahr:
Doppelte Marginalisierung
Gewisse Kinder finden sich zunehmend aus –
einandergerissen zwischen Heimat (durch die
1J.-C Métra
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr Jean-Claude Métraux , Pédopsychiatre FMH, Lausanne