Fachzeitschrift >

Die Herausforderungen des Praxispädiaters

Wird sich meine Praxistätigkeit in Zukunft ändern? Welche Erwartungen haben die Patienten von morgen? Welche Richtung schlägt das schweizerische Gesundheitssystem ein und inwiefern betrifft es mich? Wer wird meine Praxis übernehmen?

Angesichts der Fortschritte der Medizin innerhalb eines Jahrhunderts und der fortschreitenden Entwicklung der integrierten Grundversorgernetze kann man sich fragen, wie der Praxispädiater der Zukunft aussehen wird.

Unter anderen habe ich fünf Herausforderungen identifiziert, deren wir uns dringend annehmen müssen:
Die digitalen, technologischen und biotechnologischen Herausforderungen, die Herausforderung der Inter-Professionalität und die Herausforderung der Ausbildung der Nachfolge in Praxispädiatrie.

Einführung

Bevor wir uns mit der Zukunft befassen, definieren wir erst unsere heutigen Qualitäten. Um den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden, sind für den Praxispädiater mindestens 7 Kompetenzen wesentlich. Diese Kompetenzen CanMEDS genannt (Abb. 1) wurden durch das Royal College of Physicians and Surgeons of Canada in den 1990er-Jahre entwickelt. Sie sind wegweisend in der medizinischen Pädagogik. Hierbei geht um Kompetenz als Kommunikator (mit Patienten und Kollegen), Mitarbeiter (Kenntnisse des Gesundheitssystems um effizient zusammenarbeiten zu können), Führungsperson (im Gesundheitssystem auf verschiedenen Stufen), Gesundheitsförderer (inklusive Prävention), Lernender und Lehrender (Fortbildung während der gesamten Laufbahn und Weitergeben des Wissens), professional (übt den Beruf innerhalb der Grenzen seiner Kompetenzen aus, passt sich den Erfordernissen der Gesellschaft an, nimmt sich seiner Gesundheit an) und schliesslich medizinischer Experte, der die klinische Tätigkeit der Ärzte  gemäss ihren Spezialisierungen definiert. Der neue Katalog PROFILES, der die von den Studenten am Ende ihrer Ausbildung zu erreichenden Ziele umschreibt, stützt sich auf die CanMEDS ab.

Der Praxispädiater ist derzeit für das Kind die primäre Kontaktperson im Gesundheitssystem. Er kennt seinen Patienten in seiner Gesamtheit und koordiniert dessen Betreuung.

Studien beweisen, dass eine effiziente Grundversorgung Spitalaufnahmen, Mortalität und Inanspruchnahme von Spezialärzten verringert und damit auch die Gesundheitskosten.

Schauen wir uns nun die Herausforderungen an, denen wir uns kurzfristig stellen müssen, um der Zukunft vertrauensvoll entgegen sehen zu können.

Digitale, technologische und biotechnologische Umwälzungen

Digitale Krankengeschichte und Big Data

Wir werden der digitalen Revolution nicht entgehen und müssen lernen, ab 2020 digitale Krankengeschichten zu führen, die einen Austausch der zahlreichen Informationen ermöglichen, die z.T. durch weit von einander entfernt sich befindenden Akteuren erzeugt werden. Wir werden endlich eine holistische Sicht unserer Patienten haben und so ihre Betreuung planen und die Gesundheitskosten verringern können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, steigen wir in die wundervolle Welt der Informatik ein!

Die Analyse des enormen Volumens an soziodemographischen und Gesundheitsdaten des Big Data ist eine Realität, zahlreiche wissenschaftliche Publikationen dazu bezeugen es. Die Medizin wird eine Revolution erleben und die digitale Gesundheit ist in Reichweite! Bald werden individuelle biodynamische Informationen verfügbar sein und wir werden diagnostische und therapeutische Entscheidungen treffen, nachdem die Daten durch die künstliche Intelligenz (KI) gesammelt und verarbeitet wurden. Anschliessend werden Algorithmen die weitere Behandlung planen und dabei Nebenwirkungen und unerwartete Reaktionen ausfindig machen. Die KI wird die Arbeit des Kinderarztes ergänzen und erleichtern jedoch nicht ersetzen. Die gute Nachricht dabei ist, dass wir „im Geschäft“ bleiben! Die Betreuung der Adipositas ist ein gutes Beispiel dafür, welche Hilfe die KI uns als Präventionsmassnahme bringen könnte. Es wurde vorausgesagt, dass 2030 dieses Problem die Hälfte der Menschheit betreffen wird. Dank der KI könnten wir biologische Parameter aus der Ferne messen, und diese Patienten individuell betreuen und überwachen. Glücklicherweise ist das Datenschutzgesetz (DSG) in der Schweiz seit einem Jahr in Kraft, um Entgleisungen zu verhindern. Können die bald einmal überreichlichen Daten durch medizinische Data Manager, ein neuer medizinischer Fachbereich, verwaltet werden?

Digital natives und umgekehrte Sprechstunde

Wir sind mit den technologischen Entwicklungen bereits durch unsere Patienten konfrontiert. Derzeit betreuen wir die Generation Z (2005-2038). Nach Michel Serres, ein Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen, waren die Unterschiede zwischen den Generationen noch nie so gross. Die Kinder sind „digital natives“ und wir sind „digital immigrants“. Die Denkweise der Erwachsenen wird in Frage gestellt und die Legitimität des Kinderarztes ist nicht mehr per se gegeben. Wir werden das „self empowerment“ des Patienten erleben, der sich mittels Technologie über seine Symptome, Pathologien und die therapeutischen Möglichkeiten informieren wird. Werden wir nach dem Vorbild der umgekehrten Pädagogik, die ersten umgekehrten Sprechstunden erleben, mit Patienten die sich mit ihrer Diagnose vorstellen? Diese revolutionäre pädagogische Methode rühmt das autonome Lernen (meist e-learning) und anschliessende Zusammentragen der Resultate in der Schulklasse, wobei der Lehrer zum Vermittler oder Moderator wird. Dieses Prinzip könnte sich bestimmt auf die Sprechstunden übertragen lassen, wobei der Arzt Ansprechpartner/Vermittler oder spezialisierter medizinischer Ratgeber würde. Wir müssen deshalb die Kennzeichen der Generation Z kennen- lernen und uns an sie anpassen: Rasche Lösungen anbieten, authentisch sein, überzeugen und sich überzeugen lassen, sich in Frage stellen, sich belehren lassen und die modernen Technologien (soziale Medien) anwenden, um an Legitimität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

Genetische Krankheiten

Zu den spektakulären Fortschritten der Medizin der letzten Jahre gehört die DNA-Sequenzierung. Während die Sequenzierung 2007 2-4 Mio/bp/d betrug, erreichte man 2017 60 Mio. Das American College of Medical Genetics and Genomics empfiehlt derzeit die routinemässige präventive Bestimmung von 56 Genen, die Krankheiten verursachen können. Wird man unseren Patienten die Untersuchung potentiell krankhafter Gene routinemässig vorschlagen? Mit welch prädiktiver Bedeutung? Die Entwicklung geht in diese Richtung und es wird eines Tages bestimmt Aufgabe des Praxispädiaters sein, diese genetischen Befunde mitzuteilen und zu überwachen.

Inter-Professionalität, das neues Paradigma

Das Modell der unabhängigen Praxis hat ausgedient und wir erleben das Aufkommen von Gruppenpraxen, interprofessionellen Gesundheitsinstituten und Kompetenzzentren. Es ist die neue Politik der integrierten Gesundheitsnetze. Dieses System entspricht unseren Kollegen der Generation Y (1980 – 2000) besser, da sie nach persönlicher Entfaltung streben und oft Teilzeitarbeit wünschen. Dieses Modell begünstigt die Inter-Professionalität, das den Medizinstudenten als Modell der Zukunft gelehrt wird. Man bewegt sich in Richtung ambulante Versorgung von Patientenkollektiven durch multidisziplinäre Teams. Es ist das Ende der Einzelbetreuung des Patienten, es kommt zum Abbruch der Grenzen zwischen Fachleuten, die Betreuung der Patienten und die Koordination unter Gesundheitsakteuren werden flüssiger, wovon wiederum die Patienten profitieren. Es ist eine unaufhaltsame Entwicklung und es geht für die Praxispädiater, als Eckpfeiler des zukünftigen Gesundheitssystems, darum sich anzupassen und auf den fahrenden Zug aufzuspringen.

Sich für die Ausbildung der Praxispädiater-Nachfolge einsetzen

In unserem Gesundheitssystem werden Kinder mehrheitlich durch die Praxispädiater betreut. Die eidgenössischen Schätzungen sagten für 2030 eine Abnahme der Fachärzte Allgemeine Innere Medizin um 40 % voraus, doch scheint eine auf die medizinische Grundversorgung ausgerichtete Gesundheitspolitik Früchte zu tragen, so dass die Voraussagen heute weniger pessimistisch sind. Die Praxispädiatrie entgeht dieser Tendenz nicht. Um diesem angesagten Mangel vorzubeugen, wurden universitäre Institute zur Förderung der medizinischen Grundversorgung geschaffen. Die Medizinstudenten werden mit Beginn ihres Studiums sensibilisiert und während ihrer Ausbildung finden Praktika bei Allgemeinärzten und Kinderärzten statt. Leider ist die Pädiatrie in den Instituten immer noch untervertreten und die Praktikumsmöglichkeiten ungenügend.

Betreffend Weiterbildung muss leider festgestellt werden, dass der aktuelle Weiterbildungsplan realitätsfremd ist. Vorsorgeuntersuchungen (psychomotorische Entwicklung, bio-psycho-soziale Aspekte, Wachstum, Elternberatung) stellen ¼ der kinderärztlichen Konsultationen dar. Die Weiterbildung berücksichtigt diese Aspekte nur ungenügend. Ganz zu schweigen davon, dass die Rolle einer Führungsperson im Gesundheitssystem und administrativer Leiter einer Arztpraxis für den Praxiseinsteiger am Ende seiner Ausbildung total unbekannte Grössen sind. Es ist deshalb an der Zeit, sich um eine spezifische Ausbildung zu kümmern. Während dem Studium durch vermehrtes Engagement, durch Vorleben eines Berufsmodells, das die Studenten nachahmen möchten. Während der Weiterbildung durch das Schaffen von spezifischen praxispädiatrischen Lehrgängen mit Einschluss eines Praxisassistenzjahres, das zu einer obligatorischen Etappe in der Weiterbildung eines jeden zukünftigen Praxispädiaters werden sollte.

Fazit

Wie ich es aufgezeigt habe, werden die Praxispädiater mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Wie sich diesen Herausforderungen stellen? Welche Mittel stehen uns zur Verfügung? Die digitalen, technologischen und biotechnologischen Umwälzungen betreffend, bin ich überzeugt, dass wir unter Einsatz unserer Kompetenzen als Kommunikator, Mitarbeiter, Gelehrter, Führungsperson, Lernender, Gesundheitsförderer und medizinischer Experte imstande sein werden, diese Aufgabe zu bewältigen. Indem wir das Konzept der Inter-Professionalität integrieren, beweisen wir unser optimales Verständnis des Gesundheitssystems und werden damit zu Partnern bei den künftigen Veränderungen. Und zu guter Letzt ist ein begeisterter Einsatz in der Aus- und Weiterbildung unentbehrlich, wollen wir eine qualitativ hochstehende Nachfolge für die Praxispädiatrie garantieren.

Abbildung 1:
CanMEDS, Royal college of physicians and surgeons of Canada.
Ein Rahmen der die Kompetenz des Arztes als Kontinuum während seiner ganzen Karriere stützt.


Quellen

  • CanMEDS 2015 – the royal college of physicians and surgeons of Canada
  • “Child Health Care in Switzerland”: Jenny and Sennhauser, Jpediatr 2016; 177S: S203-12
  • “An expanded conceptual framwork of medical student’s primary career choice”: Pfarrrwaller et al, Academic medicine, vol 92, n°11, november 2017
  • “creating better doctors: exploring the value of learning medicin in primary care”: Newbronner et al, Education for primary care, 2017, vol 24, n°4, 201-209
  • “soigner la générations Z: les nouveaux codes”: O Revol, Réalités pédiatriques, n°211, mai 2017

Über die Autorin

Dr. med. Martine Bideau, Praxispädiaterin, Koordinatorin des pädiatrischen Pols in der Cité Générations in Onex, Genf.

Lehrbeauftragte an der Unité des Internes, Généralistes et Pédiatres der medizinischen Fakultät Genf.

Ausbildnerin im Programm «Praxisassistenz» der gemeinnützigen Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin (WHM).

Mitglied der Fortbildungskommission der SGP.

Universitätsdiplom Gesundheit des adoptierten Kindes, Adoptions-Sprechstunde.

Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr med. Martine Bideau, Unité des Internistes Généralistes et Pédiatres (UIGP), Centre Médical Universitaire, Genève