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Der Pädiatrie laufen die Schulkinder und Jugendlichen davon – holt sie zurück!

Die von Jenni und Sennhauser erhobenen Daten zur medizinischen Versorgung von Kindern in der Schweiz zeigen, dass ab dem 7. Lebensjahr nur noch rund 60% der Schulkinder beim Pädiater betreut werden ...

Schulschwierigkeiten – ein Alltagsthema

Die von Jenni und Sennhauser1) erhobenen Daten zur medizinischen Versorgung von Kindern in der Schweiz zeigen, dass ab dem 7. Lebensjahr nur noch rund 60 % der Schulkinder beim Pädiater betreut werden und diese Anzahl bis zum 18. Lebensjahr fast linear auf 10 % abnimmt. Quasi kompensatorisch nehmen die Konsultationen von Jugendlichen bei den Hausärzten in dieser Alterskategorie zu, sodass auf den ersten Blick deren medizinische Betreuung gewährleistet scheint.

Einige von Ihnen werden argumentieren, dass dieses Phänomen der natürlichen Ablösung entspreche und wir Pädiater uns darüber keine Gedanken machen müssen. Aus der Sicht des Praktikers ist der Verlust der Schulkinder wohl zu beklagen, weil sie damit zusammenhängt, dass wir uns zu wenig mit den spezifischen Entwicklungsthemen der Schulkinder und Jugendlichen auseinandersetzen und entsprechend ungenügend professionelle Angebote machen. Auch unsere Gesellschaften (SGP, SGEP) positionieren sich bei Fragestellungen, die Schule betreffend, kaum öffentlich-politisch und überlassen damit die Entscheidungen zur gesunden Entwicklung der Schulkinder anderen Fachleuten und Politikern. Was dabei heraus kam, beschrieb die Bildungsdirektion ZH in ihrem Bericht von 20072): Rund 50 % der Schulkinder erhielten 1 – 2 sonderpädagogische und/oder unterrichts-ergänzende Massnahme(n). Rechnete man die medizinisch verordneten Therapien (Psycho- und Ergotherapie, Medikamente) von 10 – 15 % dazu, brauchten gut 65 % der Schulkinder eine Unterstützung, um in unserer Schule bestehen zu können.

Da muss man sich schon fragen, wer denn jetzt krank ist, unsere Kinder oder unser Schulsystem?

Diese Zahlen deckten sich mit unseren Praxiserfahrungen, wonach immer mehr und immer früher Kinder zu Abklärungen geschickt und Therapien gefordert wurden. In einem 2008 publizierten Artikel beschrieben Baumann und der Schreibende3) daher erstmalig, dass rund 15 % der Schulkinder von relevanten Schulschwierigkeiten betroffen sind und diese die häufigsten Entwicklungsprobleme von Schulkindern darstellen. Wir schlussfolgerten, dass der Pädiater nicht darum herum komme, sich damit auseinander zu setzen. Im Buch „Schulschwierigkeiten“4) versuchten wir, das nötige Fachwissen dazu zu vermitteln und positionierten uns gleichzeitig kritisch gegenüber der Diagnosen- und Therapieinflation bei Schulkindern durch nicht-pädiatrische Fachleute. Wir lösten damit eine mediale Diskussion über einen fragwürdigen Normalitätsbegriff und den Sinn und Zweck der wissenschaftlich kaum bewerteten Therapien aus. Wie für Themen ohne politisch treibende Lobby typisch, ebnete diese Welle der Aufruhr rasch ab und machte Platz für Alltagstrott. Also hat sich nichts bewegt – oder doch? Was haben wir erreicht?

Wenn man als Praktiker seinen Patienten zuhört, bleibt das Thema unverändert aktuell und für die Betroffenen bedeutsam. In Ergänzung zum Artikel von von der Heiden, Iffländer und von Rhein5) möchte ich hier aufzeigen, dass der Kinderarzt nicht nur bei Kleinkindern, sondern auch bei Schulkindern Wegweiser sein soll im Dschungel der Massnahmen und Therapien. Sie als Pädiater kennen das Kind und die Familie bereits seit Jahren und sind eine neutrale und fachkompetente Bezugsperson, welche die Betroffenen langfristig unterstützen kann. Auch wenn es herausfordernd und zeitaufwändig ist, kümmern Sie sich darum, denn es geht um nichts weniger als die persönliche und berufliche Zukunft der Schulkinder und Jugendlichen. Ich wage gar zu behaupten, dass Sie als Praktiker damit eine Burnout-Prophylaxe betreiben, weil sie langfristig sinnerfüllter arbeiten werden.

Schuldruck macht aus Kindern Patienten

Als Praxispädiater zu verfolgen, wie aus den kleinen Wesen Persönlichkeiten heranreifen, die häufig fröhlichen Mutes und neugierig in unserer Schule starten, ist spannend und erfüllend zugleich. Leider habe ich in den letzten 15 Jahren erlebt, dass immer mehr Kinder die Hürden unseres Schulsystems nicht mehr meistern und mit stressinduzierten Störungen auf ihr Misfit reagieren. 2006 beschrieben Steinhausen et al. erstmalig, dass rund 25% der Kinder im Laufe ihrer Schulkarriere eine therapiebedürftige psychische oder psychosomatische Störung entwickelten und dabei die Schule als Hauptbelastungsfaktor bezeichneten6). Dieses Phänomen hat zugenommen und beschäftigt uns fast täglich auch bereits bei sehr jungen Kindern. Als Konsequenz davon werden diese Kinder immer häufiger und früher durch verschiedene Fachleute wegen ihrer „Defizite“ leistungs- und psychodiagnostisch untersucht und erhalten medizinalisierte Diagnosen bzw. Therapien, die ihnen helfen sollen, wieder in die Norm oder (besser) darüber zu kommen.

Mit unserem pädiatrischen Hintergrund wissen wir, dass rund 5 – 7 % der Kinder von schwerwiegenden Entwicklungsstörungen betroffen sind, welche allesamt bereits im Kleinkindalter auffallen. Diese Kinder erhalten eine individualisierte Frühförderung und ihre Beschulung wird an ihren Entwicklungsstand angepasst. Geschätzt fallen weitere 7 – 10 % der Kinder mit Beginn der Schule auf, sei es mit unreifem oder störendem Verhalten, sozialem Rückzug oder Aggressionen, spezifischen Lernproblemen, psychischen Störungen oder diffusen (psycho)-somatischen Symptomen.

Die Normalitätsfalle: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

In diversen Langzeituntersuchungen zur kindlichen Entwicklung konnte gezeigt werden, dass zwischen gesunden gleichaltrigen Kindern eine breite interpersonale Variabilität im Entwicklungstempo besteht. Vereinfacht gesagt, entspricht die ermittelte psycho-soziale und motorisch-kognitive Entwicklung gerade bei 62 % der Kinder ihrem chronologischen Alter. Die restlichen 38 % sind sogenannte Langsam- oder Schnellentwickler. Auch das intrapersonale Entwicklungsprofil der einzelnen Fähig- und Fertigkeiten der Kinder fällt bei einer Mehrheit unausgeglichen aus7). Dies bedeutet, dass sie nicht in allen Bereichen gleich gut entwickelt sind und wie wir Erwachsene auch Stärken und Schwächen haben, die der natürlichen Variabilität entsprechen.

Wie gehen nun Eltern und Lehrpersonen mit den vielen Kindern um, welche die vom Lehrplan vorgegebenen Kompetenzziele nicht erreichen? Wir beobachten eine gefährliche Orientierung an einem falsch verstandenen Normalitätsbegriff, der den Mittelwert als das zu erreichende Ziel und die übliche Streuung der Fähigkeiten als behandlungsbedürftige Abweichung definiert. Jedes Kind, das in einem Teilbereich nicht (mindestens) eine durchschnittliche Leistung erbringt, erhält daher entweder eine sonder-pädagogische Unterstützung oder aber eine spezifische Therapie.

Gelegentlich erlebe ich Eltern, die jede erdenkliche Massnahme für ihr Kind fordern in der Hoffnung, dass dieses einen besseren Schulabschluss erreiche. Die dahintersteckende Angst aufzudecken und als schlechten Ratgeber für eine Motivationsförderung zu deklarieren ist häufig hilfreich. Aus der entwicklungspädiatrischen Literatur wissen wir nämlich, dass individuelle Stärken und Schwächen mittel- und langfristig kaum veränderbar sind. Die Orientierung an den Schwächen (= Pseudodefiziten) der Kinder stempelt sie als Kranke ab und lässt sie nicht in ihrem Selbstwert wachsen. Im einzelnen Fall wäre es viel sinnvoller, sich an den individuellen Stärken des Kindes zu orientieren und selbstmotiviertes Lernen dort zu fördern.

Kinder mit Normvarianten zu therapieren ist daher mehr systemerhaltend als wirklich kindgerecht. Statt sich Gedanken über die Art der Wissensvermittlung und die Sinnhaftigkeit unseres normen-, leistungs- und testorientierten Schulsystems zu machen und sich politisch zu wehren, scheint es einfacher, die Kinder in Therapien zu schicken. Diese sichern ihnen im besten Fall das Überleben in der Schule. Im schlechten Fall wird dadurch aber die Fokussierung auf ihr «Defizit» weiter fixiert und sie werden neben ihrem Schulversagen auch noch durch eine medizinisch-psychologische Defizitdiagnose stigmatisiert.

Schulreformen und leidende LehrerInnen

Unser öffentliches Schulsystem tut sich auffallend schwer damit, die oben genannten entwicklungsbiologischen Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen oder gar inhaltlich-strukturell darauf zu reagieren. Wenn Lehrpersonen Kinder primär nach fest vorgegebenen Lehrplänen unterrichten und deren Leistungen an pseudogenormten Kompetenzen messen müssen, werden sie mittels eines wirtschaftlichen Messinstrumentes gezwungen, Kinder in Investitionskategorien zu klassifizieren. Wie bereits beschrieben, werden etwas mehr als die Hälfte der Kinder die gesetzten Ziele erreichen, die anderen laufen Gefahr, frustriert zu versagen. Dadurch wird das Schulklima belastet und die Lehrpersonen werden allseitig einem enormen Erwartungsdruck ausgesetzt. Nicht verwunderlich waren daher die Untersuchungsresultate über die Belastungen der Schweizer Lehrpersonen 2014: Sie ergaben, dass 20 % eine latente Arbeitsüberforderung und rund 40 % Burnout-gefährdete Symptome beschrieben8).

Davon ausgehend, dass selbstmotiviertes Lernen primär von einer entwicklungsadaptierten Förderung und einer passenden Lernumgebung abhängt, müssten die Lehrpersonen die Freiheit haben, für die Kinder individualisierte Lernziele formulieren und diese in praktischen Lernwegen umsetzen zu können. Im aktuellen Schulsystem besteht jedoch kein Platz für diese ursprüngliche Form des Lehrerseins.

Gemäss der Statistik der Bildungsinstitutionen des BFS haben die Privatschulen auf der Primarstufe im Zeitraum 2010 – 18 jährlich zugenommen und betragen aktuell rund 10 % der öffentlichen Schulen8). Wären da nicht die finanziellen Hürden bzw. Risiken, kann man davon ausgehen, dass sich viel mehr Eltern und Lehrpersonen für eine solche Variante entscheiden würden. Die öffentliche Schule täte daher gut daran, sich zu überlegen, wie sie von der Idee der Normschule weg kommt und unterschiedliche, aber im Endziel gleichwertige Schulmodelle für unsere Kinder anbieten kann.

Wir brauchen mehr mutige und politisch aktive Pädiater

Die grosse Anzahl von Kindern, die medizinalisiert werden, weil sie nicht in unsere Schulnormen passen, stimmt mich nachdenklich. Unsere aktuelle Funktion erinnert an eine Feuerwehr, die keine Präventionsaufgaben erfüllen darf. Ich vermisse eine offene Diskussion zu Bildungs- und Haltungs-vermittlung, Sinnhaftigkeit von Lerninhalten und individualisierte Schulmodelle, welche Lernen aus einer entwicklungspädagogischen Sichtweise betrachten. Schule darf aus meiner Sicht nicht primär eine Vermittlungsanstalt von zusammenhangslosem Testwissen durch konzeptgesteuerte Lehrpersonen sein. Vielmehr sollte Schule das Lerninteresse bei den Kindern entwicklungsentsprechend fördern und ihnen durch geeignete Lernmethoden alltagsrelevantes Wissen und Können vermitteln. Als Anwälte der Kinder dürfen wir uns nicht von der Schule instrumentalisieren lassen. Wenn wir wissen, dass das Schulsystem der Entwicklung von gut einem Drittel der Kinder nicht gerecht wird, sollten wir diese nicht primär mit Therapien zu „korrigieren“ versuchen, sondern vielmehr das System hinterfragen und passendere Schulmodelle fordern.

Die Mess- und Vergleichbarkeit der Schüler und Lehrer untereinander und mit anderen (internationalen) Schulsystemen scheint das primäre Ziel der pädagogischen Reformen der letzten Dekade gewesen zu sein (Pisa Studien). Irgendwie ist aus dem Blick geraten, dass es sich um Kinder handelt und nicht um optimal einzustellende Maschinen. Aus meiner Sicht ist ein Marschhalt unabdingbar. Die Schule darf nicht der Spielball von theoretischen Schulentwicklern, Politikern und Wirtschaft bleiben.

Wir als Pädiater und insbesondere unsere Standesgesellschaften sind gefordert, sich öffentlich deutlicher zu positionieren und mehr politischen Druck zu machen, damit unser Fachwissen zu den Themen Entwicklung und Lernen bei der Schulentwicklung einbezogen wird. Die Kinder sollen zum Lernen motiviert und gebildet werden, es ist aber mindestens so wichtig, sie auf ihrem Weg zu wertvollen und sozialen Mit-Menschen zu erziehen. Damit dies erreicht werden kann, muss wieder das Kind in seiner Entwicklung zum Fokus werden.

Referenzen

  1. Jenni Oskar G, Sennhauser Felix H (2016), Child Health Care in Switzerland, J Pediatr 177S: S203-12
  2. Bildungsdirektion Zürich (2007), Sonderpädagogische und unterrichtsergänzende Massnahmen
  3. Baumann Thomas, Alber Romedius (2008), Schulschwierigkeiten, Pädiatrie up2date, 1; 61-93
  4. Baumann Thomas, Alber Romedius (2011), Schulschwierigkeiten, Störungsgerechte Abklärung in der pädiatrischen Praxis, Hogrefe
  5. von der Heiden Monika, Iffländer Raphaela, von Rhein Michael (2019), Kinderärzte als Wegweiser im Dschungel früher Therapien, Paediatrica Vol 30,1-2019, 39-43
  6. Winkler Metzke C, Achermann N, Pecorari C & Steinhausen H-C (2006), Erlebte schulische Umwelt und seelisches Befinden. In: Steinhausen, H-C (Hrsg.) Schule und psychische Störungen. Kohlhammer
  7. Jenni Oskar, Benz Caroline, Latal Bea (2011), Das Entwicklungsprofil, Wenn die kindliche Entwicklung nicht im Gleichschritt verläuft, Pädiatrie up2date, 2; 199-228
  8. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (2014), Belastungen und Ressourcen bei Schweizer Lehrpersonen. FHNW, IFE, MikS.
  9. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsinstitutionen.html

Zum Autor

Romedius Alber, 1963, Ausbildung in Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie (Systemtherapeutische Ausbildung) in Bern und Zürich, Praxispädiater seit 2002 in Zug, Schwerpunkt Entwicklungspädiatrie, Lehrpraktiker und Leiter Kurs für systemische Entwicklungspädiatrie (SEP). Aktuell tätig in der Praxis Kunterbunt.

Der Inhalt dieses Artikels widerspiegelt die Auffassung des Autors und deckt sich nicht zwingend mit der Meinung der Redaktion oder der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie.

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Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Romedius Alber Zug