Fachzeitschrift

Replik zu Artikel «Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik, Folgekrankheiten und Therapieansätze der pädiatrischen Adipositas»

Mit Interesse haben wir den genannten Artikel gelesen. Mehrere zentrale Aussagen erfordern jedoch eine Richtigstellung und Ergänzung auf Basis publizierter Schweizer Daten.

Die neuen Wachstumskurven von 2019 und 2025 aus dem PEZZ

Im Artikel wird behauptet, dass für die Schweiz keine Daten zu Gewicht und BMI im frühen Kindesalter vorlägen. Diese Aussage ist nicht korrekt. Wir haben 2019 auf der Grundlage von mehr als 30’000 Messungen von Geburt bis ins junge Erwachsenenalter zeitgemässe Referenzkurven für Körpergrösse, Gewicht und BMI publiziert(1). Diese umfassen ausdrücklich auch die Altersgruppe von null bis fünf Jahren. Unsere kürzlich publizierte nationale Erweiterung der Wachstumskurven (Eiholzer et al. 2025) mit über 43’000 Kindern bestätigt die Resultate und stellt nun repräsentative Referenzen für alle Sprachregionen der Schweiz dar(3).

Herkunft der Eltern als Risikofaktor für Adipositas

Darüber hinaus greift der Artikel zu kurz, wenn er zentrale Befunde zur Ätiologie des Übergewichts in der Schweiz ausblendet. Unsere 2021 publizierte Querschnittsstudie(2) mit mehr als 12’500 Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 20 Jahren dokumentierte die Prävalenzen differenziert nach der Herkunft der Eltern. Dabei zeigt sich: Der in den letzten Jahrzehnten beobachtete Anstieg des BMI betrifft nicht die Gesamtbevölkerung, sondern hauptsächlich Kinder mit Eltern aus Südeuropa.

Bei Kindern mit Schweizer Eltern blieb der BMI über die letzten 50 Jahre hinweg weitgehend stabil, lediglich im oberen Perzentilenbereich finden sich deutlich Zunahmen. Mit anderen Worten: Das durchschnittliche Gewicht hat sich nur minimal geändert. Nur übergewichtige und adipöse Schweizer Kinder wurden noch übergewichtiger. Demgegenüber ist das Risiko für Übergewicht bei Kindern mit südeuropäischen Eltern rund zweieinhalbmal so hoch wie bei Kindern mit Schweizer Eltern.

Besonders hoch ist die Belastung bei Knaben aus der Balkanregion, von denen fast ein Drittel übergewichtig oder adipös ist. Obwohl Kinder mit Eltern aus Südeuropa nur 13–18 % aller Kinder in der Schweiz ausmachen, entfallen auf sie 41 % aller adipösen Mädchen und 57 % aller adipösen Knaben.

Wir konnten auch zeigen(2,4), dass die Kinder eingewanderter Familien in der Schweiz punkto Gewicht und BMI ihren Peers in den Herkunftsländern entsprechen. Übergewicht und Adipositas sind also nicht die Folge der Migration, noch handelt es sich bei den Migrantenfamilien um eine selektierte Gruppe mit besonderem Risiko. Die Erklärung liegt ganz einfach darin, dass in Europa Gewicht und BMI vom Norden in den Süden zunehmen.
Beispiel: Mädchen mit Eltern aus Italien/Spanien/Portugal erreichen ab 10 Jahren auf der 50. Perzentile einen BMI, der 1,5 kg/m² höher liegt als bei Schweizer Mädchen gleichen Alters.
Knaben aus der Balkanregion liegen mit 18 Jahren +2,2 kg/m² über den Schweizer Referenzkurven.

Im Artikel werden der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern als zentraler Risikofaktor hervorgehoben. Unserer Daten und deren Analyse(2) zeigen jedoch, dass in der Schweiz die Herkunft der Eltern ein wesentlich stärkerer Prädiktor für Übergewicht und Adipositas ist als deren sozio-ökonomische Situation. Die Erklärung liegt in den unterschiedlichen Einwanderungsströmen: Familien aus Südeuropa mit hohem Adipositasrisiko arbeiten überwiegend in einfacheren Tätigkeiten, während Einwanderer aus dem Norden mit niedrigem Risiko häufiger höhere Positionen einnehmen. In der Summe entsteht dadurch fälschlicherweise der Eindruck, Übergewicht und Adipositas seien eine Folge von niedrigem Bildungsstand und Einkommen.

Nationale Prävalenzwerte

Die neuen Daten von 2025 erlauben zudem eine Gesamteinschätzung der Situation in der Schweiz: 13.1 % der Mädchen und 14.0 % der Knaben sind übergewichtig (inkl. adipös). In der Gesamtstichprobe wurde Adipositas bei 2,8 % der Mädchen und 3 % der Jungen beobachtet. Diese Werte unterstreichen, dass das Problem in der Schweiz real, aber im europäischen Vergleich moderat ist.

Referenzsysteme

Im Artikel wird ferner vermutet, dass die in der Schweiz veröffentlichten Adipositas-Prävalenzen unterbewertet sein könnten, weil sie auf Grundlage der Referenzwerte von Cole berechnet worden seien und nicht anhand der von der WHO festgelegten Grenzwerte. Dazu ist festzuhalten: Erstens hat sich die Methode von Cole weltweit durchgesetzt. Zweitens verwendet die Schweiz als praktisch einziges Land in Europa weiterhin die ungeeigneten WHO-Referenzen. Diese WHO-Kurven sind problematisch, weil bei ihrer Konstruktion sogenannte unhealthy weights – Kinder mit stark erhöhtem Gewicht – systematisch ausgeschlossen wurden. Dadurch liegen die 90. und 97. WHO-Perzentilen tiefer, was zu einer Überschätzung von Übergewicht und Adipositas führt (Vergleiche Tabelle 1).

Das eigentliche Problem besteht darin, dass es für Kinder kaum wissenschaftliche Daten gibt, die eindeutig belegen, ab welchem Grad an Übergewicht und in welchem Alter gesundheitliche Folgeschäden zu erwarten sind. Anstelle der WHO-Werte wenden die meisten europäischen Länder heute die von Cole entwickelte Methode auf ihre eigenen nationalen Normwerte an. Dabei werden die beiden BMI-Perzentilen herangezogen, die am 18. Geburtstag den BMI-Grenzwerten von 25 kg/m² bzw. 30 kg/m² entsprechen. Diese Perzentilen dienen dann als Grenzwerte für Übergewicht und Adipositas in allen Altersgruppen bis zum 18. Lebensjahr.

Bereits in unserer ersten Arbeit aus dem Jahr 2019 haben wir auch diese Daten zur Verfügung gestellt. Je nach Definition der Grenzwerte schwanken die Prävalenzen erheblich (Tabelle 1). Während die Grenzwerte berechnet nach Cole zu moderaten und international vergleichbaren Werten führen, ergeben die WHO-Kurven deutlich höhere Adipositasprävalenzen.

Tabelle 1. Prävalenz von Übergewicht und Adipositas unter Anwendung verschiedener Grenzwerte (Kinder ab 2 Jahren berücksichtigt)

Diese Ergebnisse zeigen: je nach angewendetem System kann die Prävalenz von Adipositas bei Jungen zwischen 3.3 % (CH-Daten) und 7.8 % (WHO) variieren. Schweizer Referenzkurven sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich mit der IOTF-Methode von Cole realitätsnahe Grenzwerte für das eigene Land berechnen lassen.

Zusammenfassung

Für die Schweiz liegen seit 2019 publizierte Daten zu Gewicht ab Geburt und zum BMI ab dem zweiten Geburtstag vor, und auch die Adipositasprävalenz im Vorschulalter ist dokumentiert. Der in den letzten 50 Jahren beobachtete BMI-Anstieg ist bei Kindern mit Schweizer Eltern minimal; die Zunahme der Adipositas in der Schweiz ist im Wesentlichen durch Migration aus Südeuropa verursacht. Die neuen nationalen Daten von 2025 bestätigen dies: Schweizer Kinder weisen Adipositasraten unter 2 % auf, während Kinder aus Südeuropa und vom Balkan deutlich häufiger (Knaben 8%; Mädchen 6%) betroffen sind. Die Zahlen aller Kinder in der Schweiz sind für Adipositas und Übergewicht im europäischen Vergleich moderat. Die WHO-Kurven überschätzen die Adipositasprävalenz, während Schweizer Referenzkurven eine realistische Grundlage liefern. Entscheidend für das Adipositasrisiko ist in der Schweiz nicht primär der sozioökonomische Status, sondern die Herkunft der Eltern.

Referenzen

  1. Eiholzer U, Fritz C, Katschnig C, Dinkelmann R, Stephan A. Contemporary height, weight and body mass index references for children aged 0 to adulthood in Switzerland compared to the Prader reference, WHO and neighbouring countries. Ann Hum Biol. 2019;46(5):437–447. doi:10.1080/03014460.2019.1677774
  2. Eiholzer U, Fritz C, Stephan A. The increase in child obesity in Switzerland is mainly due to migration from Southern Europe – a cross-sectional study. BMC Public Health. 2021;21:243. doi:10.1186/s12889-021-10254-7
  3. Eiholzer U, Stephan A, Dubinski I, Fritz C, Noordam C. Updated Swiss Growth References 2025: No Height Differences, but BMI Variations Associated with Migration. J Clin Med. 2025;14:5912. doi:10.3390/jcm14165912
  4. Atlas Wachstum – Anthropometrische Referenzdaten für Kinder 0 – 20 Jahre in der Schweiz/ Urs Eiholzer, Anika Stephan, Chris Fritz 2020, PEZZ-Verlag, Zürich, ISBN 978-3-033-07993-9

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Korrespondenz

Autor:innen

  • Prof. Dr. med. Urs Eiholzer
    Pädiatrischer Endokrinologie Leiter, PEZZ Pädiatrisch Endokrinologisches Zentrum Zürich AG, Zürich