Einleitung
Die Nahrungsaufnahme ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse von Menschen. Essen ist jedoch mehr als nur die Zufuhr von Energie und Nährstoffen. Das Essverhalten eines Kindes oder Jugendlichen wird einerseits durch angeborene Präferenzen und physiologische Mechanismen, aber auch durch externe Faktoren, wie z.B. Familienstrukturen, Zeit und Ernährungswissen der Eltern, dem Familieneinkommen oder der Verfügbarkeit von Lebensmitteln beeinflusst. Vorlieben, aber auch emotionale und soziale Assoziationen zu bestimmten Nahrungsmitteln werden in Interaktionen mit den Bezugspersonen geprägt. Infolgedessen ist eine der wichtigsten Botschaften, die vermittelt werden muss, dass Essstörungen und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen multifaktorielle Erkrankungen sind. Daher sollten sie interdisziplinär von entsprechend ausgebildeten Teams behandelt werden, um die Entwicklung langfristiger somatischer und psychischer Komplikationen zu vermeiden.
Die Ernährungssozialisation in der frühen Kindheit
Die Beziehung eines Säuglings zu seinen primären Bezugspersonen wird stark durch die Nahrungsaufnahme geprägt und gilt als besonders wichtig für die gesamte Entwicklung des Kindes. Mit dem Stillen und dem allmählichen Wechsel zur festen Nahrung sind vielfältige Erziehungs- und Lernprozesse verknüpft. Kinder lernen durch das Angebot, dass das soziale Umfeld anbietet, zu essen, was geniessbar ist. Mit der Sozialisation werden Kinder in die Esskultur der jeweiligen Gesellschaft eingeführt. Die Nahrungsaufnahme ist also nicht allein biologisch determiniert, sondern stark durch familiäre, soziokulturelle, religiöse Erfahrungen geprägt, wird durch Lern- bzw. Erziehungsprozesse gebildet und hat damit einen lebenslangen Einfluss auf das Ernährungsverhalten, die Gesundheit und das Wohlbefinden(1). Studien zeigen, dass Kinder, die von klein auf mit einer ausgewogenen, abwechslungsreichen Ernährung in Kontakt kommen, langfristig eine vielseitigere Lebensmittelakzeptanz aufweisen und tendenziell eine optimalere Gewichtsentwicklung haben. Hingegen haben Kinder, die sich frühzeitig sehr selektiv ernähren, ein höheres Risiko, Übergewicht oder Adipositas zu entwickeln.

Die Art und Weise, wie im Kleinkindalter Mahlzeiten gestaltet werden, beeinflusst das spätere Essverhalten(2). Kinder, bei denen Mahlzeiten regelmässig mit Stress oder Konflikten assoziiert sind, entwickeln häufiger eine gestörte Beziehung zum Essen. Emotionales Essen, bei dem zum Trost oder zur Bewältigung von negativen Gefühlen gegessen wird, verankert sich bereits im Kleinkindalter und kann später zu Essstörungen wie der Binge Eating Störung führen. Auch eine unregelmässige oder unstrukturierte Ernährung, z.B. durch das Fehlen gemeinsamer Mahlzeiten, stellt einen erheblichen Risikofaktor für frühkindliche Fütter- und Essstörungen dar. Studien zeigen, dass Kinder, die regelmässig zu Hause gemeinsam mit der Familie essen, eher ein normales Gewicht entwickeln und weniger anfällig für übermässigen Zuckerkonsum sind(3). Dies betont die Bedeutung der familiären Esskultur und der Rolle von Eltern als Vorbilder für gesunde Ernährungsgewohnheiten. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, das hochverarbeitete Lebensmittel priorisiert, haben ein höheres Risiko, später Übergewicht zu entwickeln. Das in der Kindheit erworbene grundlegende „Ess-Programm“ lässt sich nur durch bewusste Anstrengung ändern. Essen wird also in der Kindheit sowohl durch als auch beim Essen gelernt(4). Erfahrungen mit der Nahrungsaufnahme gelten für die Primärsozialisation in der Familie als besonders herausragend, da sie es ermöglichen, Essen als genuss- bzw. lustvoll zu erleben.
Fallbeispiel 1
Sam (drei Jahre) habe einen unbändigen Hunger und wolle ständig essen. Die Mutter könne mit ihm an keinem Supermarkt oder Bäcker vorbeigehen, ohne dass Sam nach Essen verlange. Meist möchte er hochkalorische Lebensmittel wie Chips, Süssigkeiten oder Backwaren essen. Wenn die Eltern seinem Wunsch nicht nachgeben, bekomme er extreme Wutanfälle, denen vor allem die Mutter hilflos gegenübersteht. Auf dem Spielplatz könne er sich nicht auf das Spielen konzentrieren. Stattdessen gehe er zu anderen Familien, um dort nach Essen zu fragen.
Es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass zu restriktive Erziehungsstile im Hinblick auf die Ernährung und das Essverhalten von Kindern problematisch sein können(5). Besonders autoritäre Erziehungsstile, die durch hohe Kontrolle und geringe Akzeptanz geprägt sind, können das Risiko für ungesundes Essverhalten oder Übergewicht erhöhen. Dies geschieht oft durch eine starke Einschränkung der Nahrungswahl, die das natürliche Hunger- und Sättigungsgefühl der Kinder beeinträchtigen kann. Auch wenn Essen als Belohnung bzw. Bestrafung genutzt wird, kann sich ein gestörtes Verhältnis zu Nahrungsmitteln entwickeln, was wiederum die Entstehung von Essstörungen begünstigen kann. Ein flexibler, aber konsequenter Erziehungsstil, der gesunde Essgewohnheiten unterstützt, ohne Verbote oder extreme Einschränkungen, scheint hingegen positive Effekte auf die Ernährung und das Essverhalten von Kindern zu haben. Neben dem Erziehungsverhalten spielen aber auch die elterlichen Einstellungen zu Ernährung, Körperbild und Gesundheit in Bezug auf das Essverhalten ihrer Kinder eine wichtige Rolle(6, 7).
Selektives Essverhalten im frühen Kindesalter als Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas
Bei Entscheidungen für oder gegen bestimmte Nahrungsmittel bevorzugen Kinder eher vertraute Geschmackserfahrungen und damit bereits bekannte Nahrungsmittel. Selektives Essverhalten ist daher eines der häufigsten Ernährungsmuster bei Kleinkindern und gilt als Hindernis für ein gesundes Essverhalten(8). Die Prävalenz von wählerischem Essverhalten wird auf 5,6 % bis 47 % geschätzt, wobei die grossen Schwankungen auf unterschiedliche Messmethoden, Altersgruppen der Kinder und kulturelle Hintergründe zurückzuführen sind.
Selektives Essverhalten bei Kindern kann zu einer Vielzahl familiärer Probleme und Konflikte im Zusammenhang mit der Ernährung führen. Hierbei sind besonders elterliche Sorgen um das Gedeihen und die Gesundheit des Kindes, Konflikte bei den Mahlzeiten und Schuldgefühle der Eltern zu nennen. Eltern empfinden das wählerische Essverhalten des Kindes oft als Ausdruck von Widerstand und oppositionellem Verhalten ihrer Kinder. Daher kann wählerisches Essverhalten bei kleinen Kindern erheblichen Stress, Angst und Spannungen in den familiären Beziehungen verursachen(10).
Ein hoch selektives Essverhalten kann zu einer Reduktion der Lebensmittelvielfalt führen, was möglicherweise eine unausgewogene und nährstoffarme Ernährung nach sich zieht(11). Im Vergleich zu nicht wählerischen Esser:innen konsumieren wählerische Esser:innen eine geringere Auswahl an Lebensmitteln, was wiederum zu schlechtem Wachstum, Untergewicht oder auch Übergewicht(12), aber auch zur Entwicklung von Essstörungen(13) führen kann. Zudem kann aufgrund der unzureichenden Aufnahme von Ballaststoffen, was häufig auf einen geringen Obst- und Gemüsekonsum zurückzuführen ist, das Mikrobiom verändert sein. Zu den Ursachen für wählerisches Essverhalten gehören eine genetische Prädisposition hinsichtlich einer sensorischen Überempfindlichkeit, frühkindliche Fütterstörungen, die verzögerte Einführung fester Nahrung während des Abstillens und Druck auf das Kind, bestimmte Lebensmittel zu essen(14). Wählerisches Essverhalten und Lebensmittelneophobien gehen bereits im Vorschulalter häufiger mit Übergewicht oder Adipositas einher(8). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Kinder, die im Kleinkindalter besonders wählerische Esser:innen waren, mit grösserer Wahrscheinlichkeit selektive Essgewohnheiten und emotionales Essen im jungen Erwachsenenalter zeigen.
Störungen der Nahrungsaufnahme im Kleinkindalter
Eine Gemeinsamkeit aller Fütterungs- oder Essstörungen im frühen Kindesalter sind Probleme des Kindes bei der Nahrungsaufnahme, welche nicht allein durch organische Ursachen erklärbar sind. Diese Probleme können sowohl mit einem sehr niedrigen Gewicht bzw. einer Gedeihstörung, mit Normalgewicht oder auch mit Übergewicht einhergehen. Somatische oder psychologische Begleiterkrankungen (z.B. Nährstoffmangel, Autismusspektrumsstörungen oder oppositionelles Trotzverhalten) sind bei allen Formen der frühkindlichen Essstörungen möglich, aber weder ein zwingendes Ausschlusskriterium noch eine notwendige Voraussetzung bei der Vergabe der Diagnose. Bei Neugeborenen besteht häufig ein mangelhaftes Interesse hinsichtlich Nahrungsaufnahme oder Schwierigkeiten, eine ausreichende Menge an Energie oral aufzunehmen. Kleinkinder und Vorschulkinder können ein ausgeprägt wählerisches Essverhalten mit sensorischen Aversionen und damit assoziierte Verhaltensmuster (z.B. langes im-Mund-behalten der Nahrung, Nahrungsaufnahme nur unter spezifischen, vom Kind geforderten Bedingungen etc.) zeigen. Auch treten gehäuft Ängste im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme auf. Leider ist das wissenschaftliche Interesse an der frühkindlichen Adipositas bisher gering, sodass bisher nur ein unzureichendes Wissen über die Ätiologie, den Verlauf und die Behandlung dieser Erkrankung vorliegt. Grundsätzlich konnte gezeigt werden, dass Adipositas im Kindesalter und das Ansprechen auf eine Behandlung auch mit psychosozialen Umgebungsfaktoren zusammenhängt, die generell die psychosoziale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter beeinträchtigen. Risikofaktoren können Depressionen und Bindungsunsicherheit der primären Betreuungsperson sein, sowie andere familiäre Belastungsfaktoren (unvollständige Schul- oder Berufsausbildung der Eltern, hohes Personen-Raum-Verhältnis, frühe Elternschaft oder zerrüttete Familienverhältnisse). Daher sollten depressive oder andere psychische Symptome bei den primären Betreuungspersonen und psychosoziale familiäre Belastungen vor einer Intervention erfasst und nach Möglichkeit behandelt werden(15).
Fallbeispiel 2
Die Eltern von Nina (vier Jahre) machen sich Sorgen um das Gewicht, aber auch das Essverhalten Ihrer Tochter. Auch ihre Leberwerte seien auffällig. Alle weiteren somatischen und genetischen Untersuchungen waren ohne Befund. Die Eltern berichten, dass sie sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung achten. Nina kenne aber keine Grenzen beim Essen. Oft verlange sie mehrmals Nachschlag und frage häufig bereits kurz nach einer Mahlzeit nach einem Snack. Oft könne sie sich gar nicht auf das Spielen konzentrieren, wenn andere in ihrer Nähe etwas zum Essen hätten.
Eine differenzierte Betrachtung der Fütter- und Essstörungen der frühen Kindheit erlaubt die Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit (DC:0-5; ZERO TO THREE)(16). Die aktuelle Ausgabe dieses Klassifikationssytems kennt zwei Hauptklassen und eine Restkategorie frühkindlicher Essstörungen:
- Essstörung mit Überessen
- Essstörung mit Nahrungsverweigerung
Die Essstörung mit Überessen entspricht in Teilen der Binge-Eating Störung der ICD-11 bzw. des DSM-5. Das Hauptmerkmal dieser Essstörung ist die Beschäftigung des Kleinkindes mit Nahrung zulasten von anderen entwicklungsangemessenen Aktivitäten. Das Kind verlangt ständig nach Essen, während oder zwischen den Mahlzeiten und es leidet, wenn es daran gehindert wird zu essen. Das Kind wird dadurch gehindert, Verhaltensweisen zu zeigen, die in seinem Altersspektrum zu erwarten wären (z.B. spielen, klettern). Begleitende Symptome bei der Essstörung mit Überessen im Kleinkindalter können eine erhöhte Irritabilität, Ärger und Wut sein – aber auch Ängste sind anzutreffen. Wichtig ist dabei im Auge zu behalten, dass Kinder mit Entwicklungsstörungen oder genetisch bzw. syndromal bedingter Adipositas ebenfalls solche begleitenden Symptome aufweisen können (vgl. dazu Ruiz et al. 2025 in diesem Heft).

Psychische Folge- und Begleiterkrankungen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
Während Bevölkerungsstichproben von übergewichtigen Jugendlichen zum Teil keine erhöhte Psychopathologie aufweisen, finden sich bei übergewichtigen Kindern, die zur Behandlung in spezifische Zentren überwiesen wurden, erhöhte Raten an Depressionen, Angstzuständen, Verhaltensproblemen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen oder Essstörungen(17). Latzer und Stein gehen in ihrer Übersichtsarbeit über die psychologischen und familiären Perspektiven der Adipositas im Kindesalter auch auf verschiedene psychosoziale Belastungsfaktoren ein, wie z. B. schlechtere schulische und soziale Leistungen, geringere Lebensqualität, gesellschaftliche Viktimisierung und Hänseleien durch Gleichaltrige, geringeres Selbst- und Körperwertgefühl sowie neuropsychologische Störungen. In der KIDSSTEP Studie, einer Evaluationsstudie zur Effektivität multiprofessioneller Gruppenprogramme für Kinder und Jugendliche mit Adipositas in der Schweiz, waren Verhaltens- und emotionale Probleme die zweithäufigste Komorbidität (46 % )(18). In dieser Studie konnte aber auch gezeigt werden, dass sich die psychischen Symptome unter der Adipositasbehandlung bei einer signifikanten Anzahl von Patient:innen verbesserte. Andersherum wurden über höhere Prävalenzraten von Übergewicht bzw. Adipositas in klinischen Stichproben von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) berichtet(19). Kinder mit ADHS haben häufiger eine Essstörungen als ihre nicht klinischen Altersgenossen(20). In einer bevölkerungsbezogenen Studie von Erhart et al.(21) wiesen Kinder mit ADHS und Übergewicht/Adipositas die höchste Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten auf. In der KIDSSTEP-Adipositas-Studie waren die Symptome von Essstörungen bei den Jugendlichen nicht häufiger als in Normstichproben, blieben im Verlauf der Behandlung stabil oder gingen sogar zurück, insbesondere Essanfälle(18).
Gewichtsstigmatisierung und ihre Folgen bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas
Die Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht oder Adipositas ist schwer abbaubar und eine der wenigen Formen von Diskriminierung, die breit geteilt und akzeptiert wird, teilweise auch unter Gesundheitsfachleuten. Es ist durch die Verwendung von schuldzuweisender Sprache und den Glauben gekennzeichnet, dass ein gesunder Lebensstil für jeden leicht zu befolgen ist, mit geringen Kosten und ohne negative Folgen(22-24). Die aktuelle Forschung konnte zeigen, dass die Stigmatisierung eine zentrale Barriere für die Behandlung von Übergewicht ist(25). Wie in Abb. 1 schematisch dargestellt, haben gewichtsbezogenes Mobbing und Stigmatisierung sowohl psychologische und somatische Folgen für die Patient:innen, mit denen Kinderärzt:innen bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen häufig konfrontiert werden(26). Diese Patient:innen haben nicht selten ein geringeres Selbstvertrauen in sich und ihre Fähigkeiten, eine Veränderung zu erreichen. Dadurch lehnen sie einen gesunden Lebensstil und eine regelmässige Behandlung eher ab(27).


Die Prävalenz der Gewichtsstigmatisierung ist bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas hoch: Metaanalysen haben gezeigt, dass gewichtsbezogene Hänseleien im schulischen Bereich bei 27-51 % liegt(28) und ihre Dauer bedeutsam ist (> 1 Jahr bis 80% der Fälle, > 5 Jahre bis 33% der Fälle) (26). Das familiäre Umfeld ist jedoch oft die stärkste und früheste Ursache des Gewichtsstigmas(29, 30). Die Auswertung von Fragebögen von Eltern und Jugendlichen zeigte, dass eine Gewichtstigmatisierung innerhalb der Familie zu einem Anstieg des BMI im Jugendalter führt. Zudem kann das Gewichtsstigma mit einem vermehrten Drogenkonsum und geringem Selbstwertgefühl einhergehen(31-33). Eine andere Umfrage unter Eltern ergab, dass stigmatisierendes Verhalten durch betreuende Ärzt:innen in 35 % der Fälle zu einem Therapeutenwechsel und in 25 % der Fälle zu einem Betreuungsabbruch führte(34).
Fallbeispiel 3
Fynn (14) wurde von seinem Kinderarzt an die orthopädische Chirurgie überwiesen, weil er „X“-Beine hat. Während der Konsultation sagte ihm die Chirurg:in, dass er zu „dick“ sei, was das Problem mit seinen Beinen verursache und dass er unbedingt Gewicht abnehmen müsse und sich deshalb in einer pädiatrischen Adipositas-Sprechstunde vorstellen solle. Bei der ersten Vorstellung in der Spezialsprechstunde für Gewichtsprobleme erzählt Fynn, dass ihn die Worte der Chirurg:in sehr verletzt hätten und er deshalb nicht mehr mit Ärzt:innen über sein Gewicht sprechen wolle. Nach einem langen Gespräch mit Fynn konnten einige für ihn wichtige Folgeziele festgelegt werden und ein Kontrolltermin wurde vereinbart.
Kinderärzt:innen und alle Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen mit Adipositas in Kontakt kommen (z. B. Lehrpersonal) oder an ihrer Betreuung beteiligt sind (z. B Ernährungsberater:innen, Physiotherapeut:innen), sollten sich der zwei Formen des Stigmas und ihrer Rollen bei der Verstärkung von Stress und der Verschlechterung des Gesundheitszustands bei Menschen mit hohem Körpergewicht bewusst sein(35):
- Das explizite Stigma besteht zum Beispiel in der Annahme, dass Übergewicht darauf zurückzuführen ist, dass die Betroffenen nicht in der Lage sind, einen gesunden Lebensstil zu übernehmen(26).
- Das implizite Stigma (negative Einstellung) ist nicht bewusst, tritt früh auf, ist schwer zu vermeiden und hängt von sozialen und kulturellen Faktoren ab(36).
Kinderärzt:innen haben insbesondere eine wichtige Rolle bei der frühzeitigen Erkennung pathologischer Gewichtszunahme und der Verantwortung, dies mit den Betroffenen und ihren Familien zu thematisieren, wobei sie sich immer bemühen sollen, keine stigmatisierende Haltung oder Sprache zu verwenden (siehe Tabelle 1)(34, 35). Um die Stigmatisierung von betroffenen Patient:innen zu vermeiden, ist es von grundlegender Bedeutung, die vielen Determinanten der Adipositas zu verstehen und eine holistische Behandlung anzubieten(35). Eine Verstärkung der Gewichtszunahme durch eine Gewichtsstigmatisierung wurde nachgewiesen(37).
Worauf können wir im Umgang mit übergewichtigen Kindern und Jugendlichen bzw. deren Eltern achten?
In Bezug auf die Sprache kann es hilfreich sein, mit den Eltern und den Patient:innen zu besprechen, welche Begriffe sie bezüglich der Gewichtsproblematik verwenden möchten. Begriffe wie «dick» oder «adipös» / «Adipositas» können zum Beispiel durch Begriffe wie «übergewichtig» / «Gewichtsproblem» ersetzet werden(35).

Die motivierende Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) ist ein weiteres Instrument, welches die intrinsische Motivation der Betroffenen und ihrer Familien unterstützt, gesundheitsfördernde Veränderungen anzustreben(38). MI basiert auf einem kooperativen und empathischen Ansatz mit offenen Fragen und reflektierendem Zuhören (z.B. bei der Reformulierung der Aussagen der Patient:innen). Es ist wichtig, an der intrinsischen Motivation zu arbeiten, die von den Patient:innen oder ihren Eltern ausgeht und ihnen einen Gewinn oder Vorteile bringen kann, die für sie sinnvoll sind. Ein Beispiel: Kinder oder ihre Eltern wünschen sich eine Normalisierung des BMI, damit sie beim Fussballspielen nicht mehr so ausser Atem sind. Die Verwendung extrinsischer Motivation kann kontraproduktiv oder sogar stigmatisierend sein. Zum Beispiel: Ärzt:innen sagen Patient:innen, dass sie aufhören sollen, zuckerhaltige Getränke zu trinken, um zu verhindern, dass sie Diabetes entwickeln.
Bei jüngeren Kindern ist die Einbindung der Eltern entscheidend, da diese massgeblich die Lebensumgebung, Ernährungsgewohnheiten und Alltagsstrukturen prägen. Durch MI können Eltern und Kinder gemeinsam dazu angeregt werden, eigene Ziele zu definieren, Hindernisse zu identifizieren und lösungsorientierte Strategien zu entwickeln. Der wertschätzende und nicht-konfrontative Stil von MI hilft dabei, Widerstände zu minimieren und die Eigenverantwortung zu stärken. Insgesamt ermöglicht MI, eine nachhaltige Verhaltensänderung zu fördern, indem es sowohl die individuellen Bedürfnisse des Kindes als auch die Rolle der Eltern als unterstützende Begleiter berücksichtigt.
Bei Jugendlichen wurden spezielle Betreuungsmodelle, die sich ebenfalls auf die MI beziehen, entwickelt. Das kanadische 5A-Modell hilft dabei, einen Behandlungsplan mit realistischen Zielen zu erstellen, wobei auch nach sekundären Ursachen für das Übergewicht und dessen somatischen und psychischen Folgen gesucht werden sollte(39). Bei Jugendlichen kann das Thema Gewicht sehr sensibel sein. Viele Jugendliche möchten mit ihren Eltern nicht über ihr Gewicht sprechen(33). Das 5A-Modell schlägt daher vor, gemeinsam mit dem Patienten festzulegen, wann und wie über das Gewicht gesprochen werden soll. Bei Jugendlichen ist es wichtig, dass das adäquate Material zur Verfügung steht (z.B. XL-Manschette für die Blutdruckmessung) und dass es ohne Kommentar verwendet wird (z.B.: „Bei dir muss ich die Manschette für Patienten mit Adipositas verwenden»)(35).
Kinderärzt:innen und Gesundheitsfachleute haben eine wichtige Rolle darin, die Gewichtsstigmatisierung innerhalb des Familienkreises zu verringern. Ein grundlegender Punkt ist, sicherzustellen, dass Eltern und Betroffene einen gleichwertigen Informationsstand haben(33, 35). Eine Studie ergab, dass 65 % der Eltern der Meinung sind, dass ihre Kinder ausreichend über ihr Gewichtsproblem informiert sind(33). Dieselbe Studie zeigte jedoch auch, dass nur 27% der befragten Jugendlichen sich für ausreichend informiert hielten(33). Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Aufklärung der Eltern über alle Determinanten der Adipositas (siehe Abb. 1), sodass sie in der Lage sind, einen konstruktiven Austausch innerhalb des Familienkreises zu fördern, indem sie eine positive Sprache verwenden (zum Beispiel: Vermeidung von nicht konstruktiver Kritik in Bezug auf das körperliche Erscheinungsbild oder die Ernährung, Förderung des Selbstwertgefühls)(26, 33, 35).
Fazit
Das familiäre und soziokulturelle Umfeld, aber auch genetische Faktoren sind die wichtigsten Determinanten für eine gesunde Essentwicklung in der frühen Kindheit und damit auch potenzielle Risikofaktoren für die Entwicklung einer Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Um langfristige somatische und psychische Folgen zu vermeiden, müssen die Gesundheitsfachleute, aber auch alle anderen beteiligten Personen – einschliesslich Eltern und Lehrpersonals – die nötigen Kenntnisse haben, um angemessen und vor allem nicht-stigmatisierend reagieren zu können(26, 35). Es ist empfehlenswert, alle Kinder und Jugendlichen mit Adipositas nicht nur somatisch, sondern auch in Hinblick auf psychische Störungen und psychosoziale Belastungsfaktoren zu screenen, damit jene mit psychosozialen Schwierigkeiten möglichst frühzeitig und effektiv behandelt werden können. Insbesondere nach Symptomen von impulsivem Essverhalten, hyperaktiv-impulsivem Verhaltens und Depressionen sollte gezielt gefragt werden. Ärzt:innen, Eltern und Lehrer:innen können erst gezielte Massnahmen zur Verbesserung des Wohlbefindens ergreifen, wenn sie über spezifische Komorbiditäten im Zusammenhang mit kindlicher Adipositas informiert sind.
Die Wahrnehmung des Übergewichts ihres Kindes durch seine Eltern hat grossen Einfluss auf sein Wohlbefinden und sein Selbstwertgefühl. Das psychosoziale Funktionsniveau, das Wohlbefinden, das Selbst- und Körpergefühl und komorbide Psychopathologien von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht haben wiederum einen Einfluss auf die Bereitschaft zu Verhaltensänderungen und damit auf den Therapieverlauf. Entsprechend sollten Kinder und Jugendliche mit Adipositas besonders in diesen Bereichen unterstützt werden. Die elterliche Einstellung zu Gewicht und Essen kann einen entscheidenden Einfluss auf das Essverhalten von Kindern, unabhängig von deren Gewicht, haben und sollte deshalb sowohl in der pädiatrischen Routineversorgung als auch in der pädiatrischen Adipositasbehandlung Gegenstand sein.
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